Der Wert des Menschen im Nationalsozialismus

Aus: Andreas Exenberger/Josef Nussbaumer, Von Menschenhandel und Menschenpreisen. Wert und Bewertung von Menschen im Spiegel der Zeit, Innsbruck 2007, S. 83-107. Dort auch mit Fußnoten
Horst Schreiber

Der vorliegende Beitrag zeigt, wie im Nationalsozialismus der Wert des Menschen durch seine behaupteten eugenischen und ethnischen Rassenmerkmale definiert wurde und welche Auswirkungen sich dadurch ergaben. Dabei wird offensichtlich, dass nicht nur die rassistische Kategorisierung über das Schicksal von Millionen Menschen entschied, sondern auch Nützlichkeitserwägungen. Arbeitsunfähige bzw. Menschen, denen kein ökonomischer Wert zugemessen wurde, verloren rasch die Existenzberechtigung. Dies wird im Folgenden am Beispiel der Verfolgung der so genannten „Asozialen“, psychisch Kranken und Behinderten, Roma und Sinti sowie an Hand der Behandlung der „Ostvölker“ demonstriert. Beim Massenmord am europäischen Judentum wurden Prozesse und Ereignisse in den Mittelpunkt gestellt, die nicht nur die rassische Unwertzuteilung, sondern auch utilitaristische Überlegungen der NS-Führung bei der Vernichtungspolitik offen legen.

1. Der Kampf gegen den inneren Feind der „Deutschblütigen“: „Ausmerzung“ der „Gemeinschaftsfremden“ und „Erbkranken“

Welchen Wert ein Mensch besaß, hing im Nationalsozialismus von seinen rassischen Eigenschaften, kurz, von seinem Genpool ab. Die Wurzeln dieses Denkens reichen bis in die Aufklärung zurück, als der Mensch und die Natur zum Gegenstand der Beobachtung und Erfassung, der Messung, des Vergleichs und der Bewertung nach den Prinzipien der Vernunft und der industriellen Produktionsweise wurde. Alle Potentiale des Menschen sollten zur Entfaltung gebracht werden, damit jedeR Einzelne einen Beitrag für die Gesellschaft leisten konnte. Die weniger Brauchbaren, Abweichenden und sich Verweigernden erfuhren daher eine umfassende Disziplinierung. Noch wurde Menschen nicht ihr Lebensrecht abgesprochen, doch ihr Wert wurde zunehmend in Beziehung zu ihrer Arbeitswilligkeit, Arbeitsfähigkeit und Arbeitsleistung gesetzt.

Rassenhygiene und „Menschenökonomie“

Mit den Entdeckungen von Erbgesetzen bei Erbsen und anderen Pflanzen durch Gregor Mendel und des natürlichen Selektionsprinzips der Evolution durch Charles Darwin begann die Wissenschaft zunehmend die neuen Erkenntnisse von der Tier- und Pflanzenwelt auf die Menschen zu übertragen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etablierte sich die Eugenik, die als Erbgesundheitslehre bzw. unter der Begrifflichkeit der Rassenhygiene im deutschsprachigen Raum äußerst populär wurde. Lange vor der NS-Machtübernahme setzten sich Wissenschafter, eigene Forschungsinstitutionen und schließlich praktisch alle politischen Lager mit der Frage auseinander, wie Menschen und damit die gesamte Gesellschaft durch die Kombination rassenhygienischer und medizinischer Maßnahmen biologisch verbessert werden könnten. Jahrzehntelang predigten die Biowissenschaften die Ungleichheit der Menschen sowie die Erblichkeit und Unabänderlichkeit von Unterschieden. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war die Definition von Randgruppen als „Minderwertige“ geläufig. Befürchtungen, dass sich diese rasant vermehren würden, sodass es in Folge zu einer Degeneration des Volkes käme, wurden auf breiter Basis heftig diskutiert. Lösungsstrategien wie die Sterilisierung entwickelten sich rasch zum Hauptanwendungsgebiet der Eugenik. Wesentlicher Impulsgeber und Vorreiter waren um die Wende zum 20. Jahrhundert die Schweiz und die USA. Kriminelle, „Schwachsinnige“ und Menschen, die einen als unsittlich und „asozial“ erachteten Lebenswandel führten, konnten auf gesetzlicher Basis zwangssterilisiert werden.

1920 schlugen mit dem Psychiater Alfred Hoche und dem Juristen Karl Binding zwei renommierte Fachgelehrte in ihrer in Deutschland sehr einflussreichen Schrift „Die Freigabe der  Vernichtung unwerten Lebens“ die Tötung behinderter AnstaltspatientInnen vor. Ihrer Argumentation nach hing der Wert eines Lebens von dessen Wert für die Gesellschaft ab. Unheilbar „Blödsinnige“ entzögen durch unnötigen Ressourcenverbrauch dem nationalen Vermögen Kapital zu unproduktiven Zwecken. Bei ihnen handle es sich lediglich um „Ballastexistenzen“, deren Tötung die wissenschaftliche Forschung fördere. Hoche lieferte zudem eine Vielzahl an Definitionen „lebensunwerten Lebens“.

Auch die Ökonomen trugen ihren Teil dazu bei, dass eugenische Prävention eingefordert wurde. Der Österreicher Rudolf Goldscheid, der der Sozialdemokratie nahe stand, entwickelte 1911 mit der Herausgabe seines Hauptwerkes eine Theorie der „Menschenökonomie“, der zufolge die Produktion von Menschen wissenschaftlichen Kriterien unter staatlicher Leitung und Kontrolle erfolgen müsse. Er sah in unproduktiven Menschen – Leidenden und Sterbenden – einen Verlustposten, der die Gesamtertragslage negativ beeinflusste. Menschliches Leben musste also zunehmend nützlich sein. Diese Sichtweise legitimierte eugenische Lösungsstrategien gegen „Erbkranke“ und „Asoziale“ zur Kostensenkung.

Nationalsozialistische Rassenvision: die perfekte deutsche Volksgemeinschaft ohne „Minderwertige“

Ein rassisch homogenes Volk bzw. ein physisch und geistig gesunder Volkskörper, aus dem die „schadhaften Elemente“, welche die Wissenschaft nach erbbiologischen Gesichtspunkten und utilitaristischen Argumentationsmustern identifizierte und definierte, um sie entsprechenden Sondermaßnahmen zu unterwerfen, standen im Mittelpunkt der NS- Rassenvisionen. Solange es eine pluralistische Gesellschaft und einander konkurrierende Forschungsansätze gab, waren dem eugenischen Rassismus Grenzen gesetzt. Erst der totalitäre, von jeglicher Kontrolle losgelöste Staat konnte mit Hilfe eines wohl organisierten bürokratischen Apparates und aufstiegsorientierter, williger Akademiker, denen bei ihren Forschungen freie Hand gegeben wurde, der lange vor der NS-Zeit diskutierten „Ausmerzung“ der Kranken, Schwachen, Behinderten und „Minderwertigen“ zum Durchbruch verhelfen. Voran leuchtete der Zukunftsentwurf einer harmonischen und perfekten deutschen Volksgemeinschaft, die einen erfolgreichen Kampf gegen die rassisch „minderwertigen“ Völker führte, indem sie die Voraussetzungen dafür durch die innere Reinigung schuf. Sowohl die eugenische als auch die ethnische Variante des NS-Rassismus definierte bestimmte Gruppen als Hindernis, um zur perfekten Volksgemeinschaft zu gelangen. In dieser Denkweise wucherten sie wie Krebsgeschwüre im „gesunden Volkskörper“ und vermehrten sich zulasten der Starken und Wertvollen, sodass der „Volkstod“ drohte. Da diese Gruppen aufgrund genetischer Ursachen als nicht besserungsfähig eingestuft wurden, war jede Reform und jeder Integrationsversuch aus NS-Sicht vergeblich. Übrig blieben also nur mehr Strategien der Entfernung – von der Ausgrenzung über die Vertreibung bis hin zum Massenmord „unwerten Lebens“ in all seinen Ausformungen -, durchgeführt mittels einer bürokratisch-wissenschaftlich-technischen Planung unter Federführung von Experten und Fachleuten.

1.1. Asozialenverfolgung

Auf verschiedenen Politikfeldern – Gesundheits-, Sozial-, Bildungs- und Bevölkerungspolitik – setzte sich die Unterscheidung zwischen wertvollen und wertlosen Menschengruppen durch, die „auszumerzen“ oder zu fördern waren. So genannte „Asoziale“ gerieten ins Visier der NS-Behörden, weil zum einen die Rassenhygiene von einer Vererbung kriminellen und von der erwünschten Norm abweichenden Verhaltens ausging. Zum anderen galt der arbeitsscheue „Asoziale“ als Antityp zu den produktiven deutschen VolksgenossInnen. Die Leistungsunfähigen und Leistungsunwilligen galten als wertlos. Sie wurden deshalb sozialpolitisch ausgegrenzt, finanziell ausgehungert und verloren letztendlich ihre Daseinsberechtigung.

Erfassung und „Sonderbehandlung“ der „arischen Gemeinschaftsunfähigen“

Die NS-Rassenpolitik legte einen immer feiner abgestimmten Raster über die deutsche Bevölkerung, die entsprechend ihrem Un-Wert für den Volkskörper in verschiedene Kategorien eingeteilt wurde. In seinen „Richtlinien für die Beurteilung der Erbgesundheit“ vom Juli 1940 nahm das Reichsinnenministerium eine Einteilung der deutschen Bevölkerung gemäß ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungen vor. Es regte eine gesundheitliche und soziale Registrierung der Gesamtbevölkerung an, die in vier Kategorien gerastert werden sollte. Das Ministerium unterschied zwischen den „Asozialen“, die von jeder Wohlfahrtsleistung auszuschließen waren und disziplinierenden Maßnahmen von der Sterilisierung bis hin zur Tötung anheim fallen sollten, den noch Tragbaren, denen lediglich Kinderbeihilfen zugestanden wurden, sowie der Durchschnittsbevölkerung und den erbbiologisch besonders Hochwertigen, die in den Genuss aller bevölkerungspolitischen Förderungen kommen durften. Damit planten die Nazis nicht nur Kranke und Behinderte, sondern auch gesunde Deutsche im Namen der Rassenreinheit zu töten.

Heinrich Wilhelm Kranz, der Leiter des Giessener Universitätsinstituts für Erb- und Rassenpflege, und sein Mitarbeiter Siegfried Koller berechneten die Zahl der „auszumerzenden arischen Gemeinschaftsunfähigen“ auf eine Million, später auf 1,6 Millionen Menschen des Großdeutschen Reiches. In ihrem „Beitrag zur wissenschaftlichen und praktischen Lösung des so genannten „Asozialenproblems“ behaupteten Kranz und Koller, dass es wissenschaftlich erwiesen wäre, dass die „Gemeinschaftsunfähigen“ aus minderwertigen Erbanlagen heraus handeln und diese Anlagen weitervererben würden. Die beiden Statistiker schlugen deshalb Eheverbote, Zwangseheauflösungen, Kindeswegnahme, Zwangssterilisation und Zwangsarbeit für die betroffenen Gruppen vor. Erste Stoßrichtung war die „Ausmerzung“ der „asozialen Großfamilie“. Da die Biowissenschaften nicht in der Lage waren, eine erbbiologische Weitergabe „asozialer“ Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen nachzuweisen, wurde die Statistik als Hilfswissenschaft der Diskriminierung und Vernichtung „Asozialer“ eingesetzt. In der Realität war die Sozialdiagnostik mit Rückgriff auf Akten der Fürsorge-, Gesundheits-, Polizei-, Justiz- und Personenstandsbehörden dafür verantwortlich, wer als „asozial“ bzw. „gemeinschaftsfremd“ oder „gemeinschaftsunfähig“ in den Kreis der Verfolgten aufgenommen wurde. Mit Hilfe der Akten konnten Rückschlüsse auf das Sozialverhalten geschlossen werden, zudem fanden sich in ihnen bereits soziale und erbbiologische Beschreibungen von Persönlichkeitsfaktoren. Koller stellte statistische Vergleiche normabweichenden Verhaltens samt der wichtigsten Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der „asozialen“ Sippen dar. Daraus resultierende Wahrscheinlichkeitsrechnungen über die Vererbung von „Asozialität“ ersetzte die zur wissenschaftlichen Definierung dieser Gruppen unfähige Genetik.

Der Zugriff auf „Asoziale“, um sie der Zwangssterilisierung zuzuführen, erfolgte vor allem über die überaus dehnbare Diagnose „angeborener Schwachsinn.“ Dabei zogen die Erbgesundheitsgerichte, welche die Letztentscheidung trafen, die Dimension des „moralischen Schwachsinns“ heran, unter der sie eine unangepasste Lebensweise und ein abweichendes Wertesystem verstanden. Wesentlich waren eben nicht medizinische Diagnosen, sondern schwammige soziale Konzepte wie „Lebensbewährung“ und „Gesamtpersönlichkeit“. Auf diese Weise wurde der Kreis der „Asozialen“ willkürlich und nach Gutdünken weiter oder enger gesteckt. Schulversagen, Vorstrafen, Arbeitsplatzverlust, Wohnungslosigkeit und inkriminiertes Sexualverhalten konnten ausreichen, um rassenhygienischen Maßnahmen unterworfen zu werden. Statt einer Armutsbekämpfung stand unter dem Vorwand der behaupteten Vererbbarkeit bestimmter Krankheiten und Verhaltensweisen eine Armenausrottung und somit der Kampf gegen Unterschichtsfamilien auf der Agenda der NS-Rassenpolitik. Der Wert eines Menschen hing in diesem Zusammenhang also von seiner gesellschaftlichen Position ab. Schließlich kristallisierte sich rasch heraus, dass das wesentliche Auswahlkriterium die Verwendung im Arbeits- und Kriegsprozess darstellte. Wer sich in diesem Sinne nicht erzieherisch beeinflussbar zeigte, bewies quasi, dass sein unerwünschtes Verhalten erbbedingte Ursachen hatte.

Generell war es die Definitionsmacht von Fürsorge, Gesundheitsamt und Polizei, die Menschen zu „Asozialen“ stempelte. In Berlin war das unter der Leitung des Zigeuner- und Asozialenforschers Robert Ritter stehende „Kriminalbiologische Institut“ mit der Aufgabe betraut, ein „Archiv aller asozialen und kriminellen Sippschaften“ zu schaffen. Die bereits erwähnten ministeriellen „Richtlinien für die Beurteilung der Erbgesundheit“ vom Juli 1940 bildeten einen gewissen Abschluss der Diskussionen rund um die Definition von Asozialität, auf die in Folge bei der Vergabe von Sozialleistungen häufig Bezug genommen wurde. Sie zeigen auch auf, welche Gruppen gefährdet waren, in die Verfolgungsmaschinerie zu geraten:

 „Als asozial (gemeinschaftsfremd) sind Personen anzusehen, die auf Grund einer anlagebedingten und daher nicht besserungsfähigen Geisteshaltung 1. fortgesetzt mit Strafgesetzen, der Pol[izei] und den Behörden in Konflikt geraten oder 2. arbeitsscheu sind und den Unterhalt für sich und ihre Kinder laufend öffentlichen oder privaten Wohlfahrtseinrichtungen, insbesondere auch der NSV und dem WHW, aufzubürden suchen. Hierunter sind auch solche Familien zu rechnen, die ihre Kinder offensichtlich als Einnahmequelle betrachten und sich deswegen für berechtigt halten, einer geregelten Arbeit aus dem Wege zu gehen; oder 3. besonders unwirtschaftlich und hemmungslos sind und mangels eigenem Verantwortungsbewußtsein weder einen geordneten Haushalt zu führen noch Kinder zu brauchbaren Volksgenossen zu erziehen vermögen oder 4. Trinker sind oder durch unsittlichen Lebenswandel auffallen (z.B. Dirnen, die durch ihr unsittliches Gewerbe ihren Lebensunterhalt teilweise oder ganz verdienen).“

Kriminalpolizeiliche Asozialenverfolgung

Bis 1938 standen Maßnahmen wie Zwangsarbeit, Arbeitshausunterbringung, Bettlerrazzien, geschlossene Fürsorge, Wanderreglementierungen u.ä. im Mittelpunkt der Asozialenverfolgung. Die rassenhygienische Politik richtete sich speziell auf die „asoziale Großfamilie“ als Gegensatztypus zur erwünschten kinderreichen, guten deutschen Vollfamilie. Dabei ging es vor allem darum, die als nicht erbgesund und unwürdig apostrophierten Unterschichtsfamilien von familienpolitischen Förderungen auszuschließen bzw. sie der Zwangssterilisierung zuzuführen.

Schließlich übernahm immer mehr das Reichskriminalpolizeiamt, das hieß Gestapo und Kripo, die Verantwortlichkeit für die Verfolgung. Durch den bereits im Dezember 1938 vom Reichsinnenminister unterzeichneten Grunderlass über die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ konnten „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ in Vorbeugehaft genommen werden, zudem aber auch jeder, der „ohne Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch sein asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdet“. Vorbeugehaft hieß Einweisung in ein Konzentrationslager. In zwei groß angelegten Razzien gegen Kriminelle und „Asoziale“ (Aktion „Arbeitsscheu Reich“ und „Juniaktion“) lieferte die Gestapo in Kooperation mit der Kripo 1938 10.000 Personen in ein KZ ein. Der wahre Grund war der Bedarf an Arbeitskräften und der Ausbau der Konzentrationslager zu Produktionsstätten der SS. Für Reichsführer-SS Heinrich Himmler ging es darum, „alle asozialen Elemente, die keine Daseinsberechtigung im nationalsozialistischen Staat hatten“, in den KZs produktiv nutzbar zu machen.

Im September 1942 erarbeiteten Reichsjustizminister Otto Thierack, Propagandaminister Josef Goebbels und Himmler eine Übereinkunft zur „Vernichtung asozialen Lebens“. Bis Ende 1943 wurden 14.700 „verbesserungsunfähige“ männliche und weibliche Justizhäftlinge verschiedener Nationalitäten, Roma, Sinti, Jüdinnen und Juden in ein KZ zur „Vernichtung durch Arbeit“ überstellt. Weitere Verfolgungsmaßnahmen, in die „Asoziale“ miteinbezogen wurden, war die Einlieferung in ein Arbeitserziehungslager und in KZ-ähnliche Jugendschutzlager.

Letzten Endes wurde willkürlich entschieden, wer als „Gemeinschaftsfremder“ einzustufen war. Es gab keinen ausgeklügelten Gesamtplan, sondern viele Einzelmaßnahmen mit dem Ziel der weitgehenden „Ausmerzung“ der als „asozial“ Eingestuften. Einer der Wege dorthin war die Aufnahme in das NS-Euthanasieprogramm.

1.2. NS-Euthanasie: Die Ermordung psychisch Kranker und Behinderter

Der eugenische Rassismus wandte sich in Fortsetzung der rassenhygienischen Vorstellungen seit dem 19. Jahrhundert mit aller Vehemenz gegen „Erbkranke“. Dies bedeutete einerseits, sie an der Fortpflanzung zu hindern und andererseits in logischer Konsequenz der Ausgrenzungspolitik, sie schließlich zu vernichten. Der „Verdienst“ des Nationalsozialismus ist es, vom Wort zur Tat geschritten zu sein. Gleich nach ihrer Machtübernahme in Deutschland beschloss die NS-Regierung im Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Rund 400.000 Menschen wurden im Großdeutschen Reich auf der Grundlage dieses Gesetzes zwangssterilisiert, drei Viertel davon bis zum Ausbruch des Krieges. Dann erfolgte eine Radikalisierung hin zum systematischen Massenmord. Die erste Gruppe, die der Vernichtung anheim fallen sollte, waren psychisch Kranke und Behinderte. Ihre Ermordung galt als Präventivmedizin und chirurgische Maßnahme. Das Selektionskriterium waren bestimmte Krankheitsbilder. Als „erbkrank“ galten Menschen mit Epilepsie, Schizophrenie, erblich bedingter Blindheit, Taubheit und schwerer körperlicher Missbildung, „Schwachsinnige“, schwere AlkoholikerInnen und später auch TBC-Kranke.

Das Leben der betroffenen Kranken wurde als „lebensunwert“ bezeichnet, ihre Tötung als Erlösung von einem qualvollen irdischen Dasein. Ein nicht zufällig auf den Kriegsbeginn mit 1. September 1939 datiertes formloses Schreiben Hitlers ermächtigte einen ausgewählten Ärztekreis, „nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes den Gnadentod“ zu gewähren. Für Hitler war der Krieg der geeignete Zeitpunkt zum Schlag gegen kranke Menschen auszuholen, da in solchen Zeiten die Menschen abgelenkt sind und „der Wert des Menschenlebens ohnehin minder schwer wiegt“.

Rassischer und ökonomischer Menschenwert

Zur Durchführung der Massenmorde bedurfte es des Aufbaues eines Erfassungs- und Selektionsapparates, also einer modernen Bürokratie. Die Planungszentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, gab dem NS-Euthanasieprogramm den Decknamen T4. Durch den Aufbau staatlicher Gesundheitsämter und dem Zusammenspiel der Gaubehörden und kommunalen Verwaltungen wurden die Voraussetzungen für die Vernichtungsaktion geschaffen. Die ideologischen Vorstellungen der Rassenreinheit mit der Züchtung wertvoller, leistungsfähiger Menschen durch gezielte wissenschaftliche Steuerung der Fortpflanzung samt der „Ausmerzung“ aller „Erbkranken“ bildeten dafür die Basis. Doch neben dem rassischen Wert stellte das Kriterium der Arbeitsfähigkeit und Produktivität das eigentliche Auswahlkriterium zur „Verschrottung“ von Menschen dar, die als „Ballastexistenzen“ und „unnütze Esser“ angesehen wurden. Entscheidend war letztendlich der ökonomische Menschenwert, der über Leben und Tod der psychisch Kranken und Behinderten bestimmte. Dazu kam, dass gerade in Kriegszeiten Kosten in der öffentlichen Fürsorge sowie den Heil- und Pflegeanstalten eingespart werden sollten, etwa zur Schaffung von Lazarettraum, zur Freistellung von Ärzten und Pflegepersonal und zur Reduktion des Verpflegungsaufwandes. Nicht zufällig begann die Massentötung psychisch Kranker und Behinderter 1939 mit der so genannten „Kindereuthanasie“, bei der mindestens 5.000 Kinder und Jugendliche aufgrund von Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten in eigens dafür gegründeten Kinderfachabteilungen umgebracht wurden. Dass dabei die WissenschafterInnen die Gelegenheit bekamen, die Ermordeten für ihre Forschung und Humanexperimente zu verwerten, ist typisch für die Menschenökonomisierung während des Nationalsozialismus.

Nicht nur Ökonomen, auch führende Statistiker ereiferten sich, die Einsparungspotentiale bei „überzähligen“ Menschen wissenschaftlich zu belegen. Friedrich Zahn, Präsident der „Deutschen Statistischen Gesellschaft“, unterstrich 1934: „Der einzige Wert des Menschen, welcher unmittelbar Gegenstand der Statistik sein kann, ist sein Wirtschaftswert. In der Geldwirtschaft ist dies der Geldwert der menschlichen Arbeitskraft.“ Wieder einmal wurde die Versicherungswirtschaft herangezogen, um die Menschen in ihren „Kostenwert“ und „Ertragswert“ einzuteilen. Unter Abziehung der Kosten vom Ertrag ergab sich der „Nettoertragswert“, also „das lebende Menschenkapital“. Die Statistiker lieferten das dementsprechende Zahlenmaterial zur Trennung der (Un)Produktiven. Götz Aly und Karl-Heinz Roth stellen zur „Reduktion von Menschen zu Punkten einer Kosten- oder Leistungskurve“ bzw. „zum schraffierten Segment eines statistischen Balkens“ generell fest: „Die Berechnung des Nettoertragswerts eines Menschen im Stile Friedrich Zahns führte dazu, daß Töten – statistisch gesehen – zur Leistung wurde, denn der lebendige Mensch, der eine negative Leistungsbilanz aufwies, verursachte tote Kosten.“

Die Durchführung der Aktion T4

NS-Euthanasie bedeutete zunächst in erster Linie die Sichtung von Heil- und Pflegeanstalten, Versorgungshäusern und Institutionen, in denen psychisch Kranke und Behinderte versorgt wurden, um sie mit Hilfe einer ausgeklügelten Organisation zentral in sechs von Heil- in Tötungsanstalten umfunktionierten Orten mit Gas zu ermorden. Der Mordprozess lief nach einem standardisierten Verfahren ab, das für Effizienz und Sparsamkeit sorgen sollte. Die LeiterInnen der Heil- und Pflegeanstalten erhielten Frage- und Meldebögen, in welchen die Daten der PatientInnen erfasst und nach Berlin geschickt wurden. In der T4-Zentrale erfolgte entsprechend den Meldungen die Entscheidung, was mit den Menschen geschehen sollte – meist ohne sie je zu Gesicht bekommen zu haben. Tötungsgefahr bestand bei PatientInnen mit längerer Aufenthaltsdauer und bestimmten Krankheiten, vor allem aber bei Arbeitsunfähigkeit. Die Anstalten erhielten von Berlin Listen der in eine der sechs Tötungsanstalten Abzutransportierenden. In der Tat konnte die Einbeziehung in den Kreis der Produktiven lebensrettend sein. Der Ermessensspielraum vor Ort war groß. Beim Gerichtsprozess gegen Dr. Hans Czermak, Leiter der Abteilung III („Volkspflege“) der Reichsstatthalterei Tirol-Vorarlberg, sagte die geistliche Schwester Erharda Hendlmaier, die dem St. Josefsinstitut in Mils bei Hall in Tirol vorstand, von wo aus 68 PatientInnen abgeholt und getötet wurden, nach dem Krieg als Zeugin aus. Dabei kam einerseits zum Ausdruck, wie stark das Arbeitsethos ihr Denken und Handeln prägte, andererseits zeigen die Widersprüche in ihrer Aussage die Problematik der Mitwirkung bei der Auswahl der PatientInnen für den Abtransport in den Tod auf, auch wenn sie in der Absicht geschah, Schutzbefohlene von der Liste streichen zu können:

 „Einen Kranken hatten wir, er hiess mit dem Vornamen Herbert, der hat einfach nichts getan und daher konnten wir ihn auch nicht als Arbeitenden angeben. Wenn ich ihn um die Post schickte, tat er es einfach nicht. Er sass immer in der Sonne und tat nichts. Er ist dann, als es zum Abtransport kam, davon gelaufen, weil er um sein Schicksal wusste. Um einen Irren hat es sich in diesem Fall nicht gehandelt.“

Auf die Frage des Vorsitzenden, warum sie nicht versucht habe, ihn von der Mordaktion auszunehmen, antwortete sie:

„Unsere Auswahl war getroffen. Diejenigen, die abgingen, waren alle schwer geistig belastet. […] Richtlinien hat uns niemand gegeben. Wir hielten uns nach den Formularien. Wenn jemand kleine Arbeiten machen konnte, hat dies zur Herausnahme genügt. Einstudiert, um zu ermessen, ob eine Geisteskrankheit heilbar oder nicht heilbar sei, sind wir nicht worden, wir urteilten nach menschlichem Ermessen. Wir brauchten die Leute zum Aufrechterhalten des Anstaltbetriebes. Zurückbehalten sind diejenigen worden, die etwas leisten konnten. Die Auswahl ist nicht vom Gesichtspunkt der Nützlichkeit für die Anstalt getroffen worden.“

In den NS-Euthanasieanstalten kam ebenso wie später in Auschwitz Gas zur Tötung zum Einsatz, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Menschen bei möglichst geringen Kosten umbringen zu können. Die persönlichen Habseligkeiten der Ermordeten wurden unter dem Vorwand der Seuchengefahr einbehalten. Die Ökonomisierung machte auch vor den Leichen nicht Halt. So wie bei den jüdischen Opfern in den Konzentrations- und Vernichtungslagern wurde auch den Euthanasieopfern goldhaltiger Zahnersatz ausgebrochen. Die Verwertung der Leichen ging so weit, dass einzelne Organe für anatomische und Forschungszwecke Verwendung fanden. Jedenfalls verarbeiteten Mordzentren wie Schloss Hartheim bei Linz in einem arbeitsteiligen Prozess lebendige Menschen in weniger als 24 Stunden zu Asche.

Ein 39 Seiten umfassendes Heft, nach dem Fundort „Hartheimer Statistik“ genannt, versuchte zum vermutlichen Zweck des Nachweises des hohen Nutzens der T4-Mordaktion eine statistische Bilanz für die sechs Tötungsanstalten zu stellen. Der Verfasser fragte sich „Was ist bisher in den einzelnen Anstalten geleistet bzw. desinfiziert worden?“ Die Antwort: „Bis zum 1. September 1941 wurden desinfiziert: Personen: 70.273.“ Den Vorteil der „Desinfektionen“ rechnete er in umfangreichen Zahlenkolonnen, wenn auch fehlerhaft, penibel aus. Auf diese Weise wollte er den wirtschaftlichen Erfolg durch Einsparungen beim Essen, Wohnraum, Bekleidung usw. belegen. Nach seiner Hochrechnung würde sich der Staat durch die bereits erfolgten Massentötungen von PatientInnen innerhalb von 10 Jahren 885,5 Millionen RM ersparen  – und dies noch ohne Berücksichtigung der jährlichen Verzinsung.

Beendigung der Aktion T4

Die NS-Euthanasie blieb nicht geheim. Vor allem in den Kleinstädten, Dörfern und in den Kirchen regte sich Widerstand. Nicht die ideologische Einstellung, sondern die Beziehung zum Opfer entschied über Zustimmung, Gleichgültigkeit oder Ablehnung. In seinen Predigten verurteilte der Bischof von Münster, Clemens August von Galen, die schrecklichen Vorgänge und sprach offen von der Ermordung Unschuldiger, die nur wegen ihrer Unfähigkeit zu arbeiten getötet würden. Die zunehmende Unruhe in einem kleinen Teil der Bevölkerung gepaart mit dem kirchlichen Einfluss trug dazu bei, dass Ende August 1941 die Aktion T4 aufgrund eines Befehls von Adolf Hitler eingestellt wurde. Allerdings ist hierbei auch zu berücksichtigen, dass ein großer Teil der Vernichtungsarbeit bereits durchgeführt worden war, und das Know-how des Tötungspersonals anderweitig benötigt wurde: beim Aufbau der Vernichtungslager im Osten für die Tötung der Jüdinnen und Juden im polnischen Generalgouvernement („Aktion Reinhard“). Die Erkenntnisse bei der Durchführung der NS-Euthanasie dienten als Modell für die „Endlösung der Judenfrage“, d.h. für die fabrikmäßigen Massenmorde am europäischen Judentum in zentralen Tötungsstätten mit Gas unter genereller Anwendung des organisatorischen und technischen Verfahrens der Aktion T4 – nur dass der Tötungsvorgang noch optimiert wurde.

Das Morden geht weiter

Im Übrigen war mit der offiziellen Einstellung der Aktion T4 keineswegs das Ende des Mordes an psychisch Kranken und Behinderten verbunden. Die Tötungen spielten sich in der Folge aber vor allem dezentral in den Heil- und Pflegeanstalten als Teil der Anstaltsroutine ab. Die Mittel waren absichtlich falsche Medikamentendosierung, Todesspritzen und Verhungern lassen. Zudem wurden auch in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkte KZ-Häftlinge der NS-Euthanasie zugeführt (Aktion 14 f 13). Deshalb blieben drei der sechs Tötungsanstalten weiterhin in Betrieb, Schloss Hartheim sogar bis Dezember 1944. Vermutlich dürften nach 1941 mehr Menschen umgekommen sein als in der ersten Phase der NS-Euthanasie.

2. Roma und Sinti: Zweifache Ausgrenzung als „Asoziale“ und „Fremdrassige“

Im Nationalsozialismus hing der Wert eines Menschen generell von seiner vermeintlichen Rassenzugehörigkeit ab. Die Sichtweise von biologisch ungleichen Menschen und ihre Einteilung in „Höher- und Minderwertige“, deren Zahl durch staatliche Eingriffe und unter Anwendung von Vermischungsverboten zu fördern oder zu vermindern war, fand nicht nur gegen spezifische Gruppen „Deutschblütiger“ Anwendung, sondern auch gegenüber ganzen Kollektiven, „Rassen“ und Ethnien. Oberstes Ziel war die Sicherung der Herrschaft des deutschen Volkes in Europa. Die Verfolgung der Roma und Sinti stellt in gewisser Weise eine Sondersituation dar, da sie zunächst im Sinne des eugenischen Rassismus als „erbbiologisch minderwertige Asoziale“ bzw. „Gemeinschaftsfremde“ bekämpft wurden. Erst in einer zweiten Phase setzte sich die Sichtweise durch, dass es sich bei ihnen um „Fremdrassige“ handeln würde, die vernichtet werden mussten.

Die Verfolgung der Roma und Sinti verschärfte sich nach der NS-Machtübernahme in Deutschland zwar deutlich (lückenlosere Überwachung in Sammellagern, starke Reduktion von Unterstützungsleistungen etc.), ansonsten unterschied sie sich noch kaum von der traditionellen Verfolgungspraxis von vor 1933: Vertreibung von einem behördlichen Zuständigkeitsbereich in den anderen und Zwangsmaßnahmen zur Sesshaftmachung.

Bis 1938 war die NS-„Zigeunerpolitik“ Teilbereich einer rassenhygienisch motivierten Bekämpfung der „Asozialen“. Roma und Sinti wurden aus NS-Behördensicht als VerbrecherInnen und Arbeitsscheue wahrgenommen, deren „gemeinschaftsschädliches“ Verhalten auf genetische Faktoren zurückgeführt wurde. Mit der Aufgabe der „Lösung der Zigeunerfrage“ war daher in erster Linie das Reichskriminalpolizeiamt zuständig, das die Roma und Sinti mit den Maßnahmen der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ und schließlich durch KZ-Einweisung aus der deutschen Volksgemeinschaft zu entfernen versuchte.

Verfolgung „aus dem Wesen der Rasse heraus“

Der Runderlass von Reichsführer-SS Heinrich Himmler vom 8. Dezember 1938 markierte den Übergang von der Verfolgung des „asozialen Zigeuners“ zur rassistisch motivierten Verfolgung. Darin kündigte er an, die „Zigeunerfrage“ künftig „aus dem Wesen der Rasse heraus“ regeln zu wollen. Bereits im Kommentar zu den Nürnberger Rassengesetzen von 1935 hatte es geheißen: „Artfremden Blutes sind in Europa regelmäßig nur Juden und Zigeuner.“ Das polizeiliche Eingreifen und die rassenhygienische „Zigeunerforschung“ begannen sich ineinander zu verzahnen. Da nun als Grundlage für die rassistische Verfolgung umfangreiche rassenbiologische Untersuchungen nötig waren, schlug in besonderem Maß die Stunde der RassenhygienikerInnen. Der einflussreichste Forscher, der die „Zigeuner und nach Zigeunerart umherziehenden Personen“ zum Objekt seiner Untersuchungen machte und die NS-„Zigeunerpolitik“ entscheidend prägte, war Robert Ritter. Der Neurologe und Psychiater stand der im Reichsgesundheitsamt angesiedelten „Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ (RHF) seit November 1936 vor und hatte den Runderlass Himmlers wesentlich mitformuliert. Roma und Sinti sollten wie die jüdische Bevölkerung als Rasse definiert werden, deshalb waren sie zu erfassen und zu klassifizieren. Dabei konnten Polizei, Behörden und RassenforscherInnen auf einige Vorarbeit zurückgreifen. So waren etwa im Burgenland die rund 8.000 Roma bereits vor 1938 in einer eigenen Zigeunerkartothek registriert.

Der moderne Rassismus, wie ihn Wissenschafter wie Ritter formulierten, erkannte in den „Zigeunern“ eine angeborene „Minderwertigkei“t als unveränderliches Erbschicksal. Deshalb waren für ihn Roma und Sinti biologisch „unschädlich“ zu machen und „Zigeunermischlinge“ sowie jenische „Zigeunerlinge“ nicht erhaltenswert. Über das fahrende Volk der Jenischen, ds in Tirol etwa unter der abwertenden Bezeichnung „Karrner“ bekannt ist, schrieb Ritter: „Ein Nachwuchs an verwahrlosten jenischen Landfahrern ist vom Standpunkt der Erb- und Rassenpflege nicht erwünscht“.

Das Hauptaugenmerk der NS-„Zigeunerpolitik“ richtete sich gegen die so genannten „Zigeunermischlinge“, zu denen Ritter über 90% der als „Zigeuner“ geltenden Personen zählte. Sie waren teilweise oder zur Gänze sesshaft, weshalb ein enger Kontakt mit der übrigen Bevölkerung unterbunden werden sollte, um der behaupteten Gefahr der „Zersetzung“ des „deutschen Volkskörpers“ vorzubeugen. Für sie sah Ritter „Verwahrlager“ und Zwangssterilisation vor. Auf diese Weise erhoffte er sich ein „Verschwinden“ der „asozialen Mischlingspopulation“.

Kurz nach Kriegsbeginn erfolgte die Anweisung des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, Roma und Sinti an ihren zufälligen Aufenthaltsplätzen festzuhalten, um sie „auszusiedeln“. Ab Mai 1940 begannen die Deportationen ins polnische Generalgouvernement. Zwangsarbeit und der Einsatz von Gaswagen im Vernichtungslager Chelmno sorgten für hohe Todesraten.

Roma und Sinti als „Vernichtungsmasse“ der Deutschen Wehrmacht

Nach dem Angriff auf die UdSSR erschossen Sonderkommandos der SS zehntausende Roma und Sinti wegen ihrer behaupteten rassischen „Minderwertigkeit“, vermeintlicher Spionagetätigkeit und als so genannte Hilfskräfte des jüdischen Bolschewismus. In Serbien waren Roma und Sinti für die Wehrmachtsführung von besonderem Wert. Ab Herbst 1941 nahm sie tausende männliche „Zigeuner“ als Geisel, um als Richtlinie ihrer Vergeltungspolitik für jeden getöteten deutschen Soldaten oder Volksdeutschen 100 Geisel erschießen zu können. Lag nur eine Verwundung vor, ließ die Wehrmachtsführung 50 Geisel töten. Sie bevorzugte serbische „Zigeuner“ und Juden als „Vernichtungsmasse“ gegenüber einer wahllosen Exekution sonstiger serbischer Zivilisten, um einen größeren Spielraum zu haben. Bei „Zigeunern“ und Juden musste keine Rücksicht genommen werden. Ihrem Leben maß die Wehrmachtsführung keinen Wert zu, ihrer Liquidierung dafür einen umso höheren militärischen Nutzen. Die Bilanz des österreichischen Generals Franz Böhme, dem alle militärischen und zivilen Dienststellen in Serbien unterstanden, sah nach nur zwei Monaten Dienstzeit im Dezember 1941 so aus: „160 gefallenen und 278 verwundeten Wehrmachtsangehörigen standen offiziell 3562 im Kampf gefallene Partisanen und zwischen 20 000 und 30 000 erschossene Zivilisten gegenüber – darunter alle erwachsenen männlichen Juden und Zigeuner.“

Die Wertigkeit in einer rassistischen Hierarchie

Im Herbst 1942 entspann sich zwischen Himmler, dem Reichskriminalpolizeiamt, Ritters Rassenbiologischer Forschungsstelle, der Parteikanzlei und dem Rasse- und Siedlungshauptamt sowie dem SS-Amt Ahnenerbe eine heftige Diskussion um die künftigen Leitlinien der „Zigeunerpolitik“. Das Ergebnis war eine Staffelung der Betroffenen nach einer rassistischen Hierarchie in drei Gruppen. Himmler und sein Amt Ahnenerbe setzten sich mit ihren Vorstellungen durch, dass es eine sehr kleine Gruppe „reinrassiger Zigeuner“ gebe, die sich während ihrer Wanderung von Indien, dem behaupteten Ursprungsland der „arischen Rasse“, nach Europa nicht vermischt und ihre „arischen“ Wurzeln bewahrt hätten. Sie sollten identifiziert werden und in einem genau abgegrenzten Bereich, quasi in einem eingehegten menschlichen Freiluftzoo, wandern dürfen. Die sozial angepassten „Zigeunermischlinge“ und „im zigeunerischen Sinne guten Mischlinge“ bildeten die zweite Gruppe. Sie sollten durch Zwangssterilisierung ausgelöscht werden. Die große Masse der „Zigeunermischlinge“, die von Polizei und rassenhygienischen Untersuchungen als absolut „minderwertig“ eingestuft wurde, war dem Tod durch Deportation nach Auschwitz-Birkenau geweiht. Am 16. Dezember 1942 befahl Himmler die Einweisung der „zigeunerischen Personen“ in ein KZ („Auschwitzerlass“). Diese Auschwitz-Transporte erfolgten von Frühjahr 1943 bis in den Sommer 1944. Mit der Durchführung der Transporte waren die Kriminalpolizeileitstellen betraut. In der Praxis waren die Selektionsanordnungen nur bedingt von Bedeutung. Der Ermessensspielraum der Kripo war groß. Vielerorts, v.a. in Österreich, lagen keine Gutachten der Rassenhygienischen Forschungsstelle vor. Die Kripo entschied in solchen Fällen selbst über das Schicksal der Betroffenen. Dazu kam, dass die Gemeinden und regionalen Behörden in der Regel alles daran setzten, Roma und Sinti los zu werden. Die regionalen Unterschiede bei der Handhabung der Selektionskriterien, also bei der Zumessung einer Wertigkeit, die über Leben und Tod entschied, waren groß.

Für viele von den Deportationen Ausgenommenen war aber selbst das Überleben schrecklich. Nicht nur, weil praktisch jedeR vom gewaltsamen Tod eines Angehörigen betroffen war, sondern weil als zweiter Teil der Vernichtungspolitik die Zwangssterilisierungen im Deutschen Reich systematisch betrieben wurden. Insgesamt wurden rund 2.500 Roma und Sinti unfruchtbar gemacht. Schätzungen zufolge fielen rund 500.000 Roma und Sinti der NS-Rassenpolitik zum Opfer. Von den 1938 rund 11.000 in Österreich lebenden Roma und Sinti überlebten lediglich 1.500 bis 2.000 Menschen.

3. Der Wert der „Ostvölker“

Der Nationalsozialismus strebte die Schaffung eines von Berlin aus regierten Großreiches an, das auf den rassischen Eigenschaften seiner EinwohnerInnen beruhte. Die NS-Rassenlehre definierte die Deutschen als „arische Herrenrasse“, die auch anderen „arischen“ Nationen überlegen wäre. In einer abgestuften Skala der „Minderwertigkeit“ folgten die slawischen „Mischrassen“, farbige Völker, Roma, Sinti sowie Jüdinnen und Juden. Alle Maßnahmen, die dem Wohlergehen der „Höherwertigen“ bzw. der „arischen Rasse“ dienten, waren unabdingbare Pflicht, selbst wenn es sich darum handelte, Millionen Menschen zu versklaven oder zu ermorden. Das Ziel – die Utopie einer harmonischen, starken deutschen Volksgemeinschaft, die einem Naturgesetz folgend das „Minderwertige“ in der Gesellschaft „ausmerzte“ und von der ethnischen Landkarte Europas strich – rechtfertigte alle Mittel. Auf der Grundlage des völkischen Rassismus sollten im Sinne deutscher „Lebensraumpolitik“ ganze Völker umgeschichtet, verschoben und ausgerottet werden.

Von besonderer Bedeutung für die deutsche Ostpolitik war ein wissenschaftliches Konzept, das auf der Bevölkerungsökonomie beruhte. Das Ineinandergreifen des völkischen Rassismus und der Theorien bzw. Pläne karriereinteressierter junger Akademiker, die sich als Bevölkerungsexperten verstanden, ermöglichte die Umsetzung eines Teils der negativen Bevölkerungspolitik. Diese Experten wurden in die Lage versetzt, eine Neuordnung Europas zu entwerfen und ihrem Machbarkeitswahn nach wissenschaftlichen Kriterien ohne ethische Rücksichtnahme nachzugehen.

Die deutschen Agrar- und Raumplaner gingen von einer Überbevölkerung Polens und (Süd)Osteuropas aus. Sie bezeichneten 30-50 Millionen Menschen als „unnütze Esser“, die aufgrund mangelnden Gewinnstrebens einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung entgegenstünden. Daher war das Verhältnis zwischen produktiven und unproduktiven, arbeitenden und zu wenig bzw. nicht arbeitenden Menschen zu korrigieren. Millionen „Überzählige“ sollten im Sinne einer wirtschaftlichen Strukturbereinigung und zur Schaffung von Raum für Volks- und Reichsdeutsche vertrieben bzw. ermordet werden. Die geringere Wertigkeit in der NS-Rassenhierarchie legitimierte ein derartiges Vorgehen rationaler Planungen für einen Wirtschaftsaufbau im Osten unter deutscher Vorherrschaft. Die Bevölkerung musste ständig verändert und optimiert werden, ebenso wie die gesamtgesellschaftliche Produktivität zu steigern war. Die Menschen selbst wurden zu Produktivitätsgrößen reduziert und auf ihren Verwertbarkeitsnutzen reduziert.

Für den als „überzählig“ und „unproduktiv“ deklarierten Teil der Bevölkerung Polens, Jugoslawiens und der UdSSR bedeuteten die Bevölkerungsverschiebungen stets Selektion, Deportation, Ghettoisierung, Hungertod und massenhafte Ermordung. Neben die langfristigen Neuordnungspläne über einen Zeitraum von 20-30 Jahren traten aktuelle kriegsstrategische Überlegungen, die mit den rassischen und bevölkerungspolitischen konform gingen. Die Ernährungsplaner erläuterten die Notwendigkeit der Umleitung von Getreide aus der Ukraine nach Deutschland, um die Ernährungssituation im Reich sicher zu stellen und Europa blockadefest, also ernährungsmäßig autark zu machen. Dass damit Millionen in der UdSSR dem Hungertod preisgegeben wurden, spielte keine Rolle, zumal es ja „Untermenschen“ betraf und dies sowohl aus rassischen Erwägungen als auch aus bevölkerungspolitischen Gründen im Sinne einer Ansiedlung Volksdeutscher, die dann auch für die angestrebte wirtschaftliche Modernisierung sorgen würden, opportun erschien. Dabei gehörte es bereits zur Kriegsplanung der Wehrmacht vor Beginn des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion, Millionen Kriegsgefangene und StadtbewohnerInnen verhungern zu lassen, damit die gewonnenen Nahrungsmittelüberschüsse für die deutschen Soldaten und die Zivilbevölkerung im Reich genutzt werden konnten.

„Generalplan Ost“

Der auf Himmlers Anordnung von Planern des Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums kurz vor dem Überfall auf die UdSSR ausgearbeitete und laufend adaptierte „Generalplan Ost“ war ein riesiges „Umsiedlungsprogramm“, das eine völlige Veränderung der Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur Osteuropas bis zur Krim und vor Leningrad vorsah. Mit der „Aussiedlung“ von 30-50 Millionen SlawInnen sollte gleichzeitig eine „Germanisierung“ der „Ostgebiete“ durch die Ansiedlung von Volks- und Reichsdeutschen als neuer Oberschicht in die Wege geleitet werden. Im Deutschen Reich selbst war daran gedacht, bis zu 700.000 landwirtschaftliche Kleinbetriebe zu modernen Großeinheiten zusammenzulegen. Dadurch sollten rund 220.000 bäuerliche Familien für die Ostbesiedlung frei werden. Für einen Teil der einheimischen Bevölkerung war die Vertreibung in Hungerzonen im äußersten Osten vorgesehen, für einen anderen die Zwangsarbeit in Deutschland. Die prinzipielle Haltung, die Himmler dabei von seinen SS-Männern erwartete, legte er am 4. Oktober 1943 in einer Rede vor SS-Führern in Posen offen:

„Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10 000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. Wir werden niemals roh und herzlos sein, wo es nicht sein muß; das ist klar.“

Der Aufbau einer gigantischen Verhütungsindustrie und flächendeckend eingerichtete Abtreibungsinstitute sollten für eine stetig sinkende Kinderzahl der zu Heloten degradierten slawischen Bevölkerungsmehrheit sorgen. Große Anstrengungen wurden unternommen, um eine industrialisierte Zwangssterilisierung der „Überflüssigen“ und „Wertlosen“ vorantreiben zu können. Experimente in den KZ Auschwitz und Ravensbrück zielten darauf ab, Schnellverfahren zu entwickeln, mit denen ein Teil der slawischen Bevölkerung auf operationslosem Wege unfruchtbar gemacht werden konnte. Die Arbeitsfähigen unter den „Minderwertigen“ sollten aber bis zu ihrem Aussterben im Sinne der NS-Leistungsmaxime genutzt werden. Himmlers persönlicher Referent stellte im Nürnberger Ärzteprozess fest:

 „Himmler war in höchstem Grade an der Ausarbeitung einer billigen und schnellen Methode der Sterilisierung interessiert, die man gegenüber den Feinden des Deutschen Reiches wie Russen, Polen und Juden anwenden konnte. Man knüpfte daran die Hoffnung, den Feind auf diese Weise nicht nur zu bezwingen, sondern auch zu vernichten. Die Arbeitskraft der sterilisierten Personen könnte von Deutschland genutzt werden, wobei aber ihre Fortpflanzungsfähigkeit zerstört wäre. Massensterilisationen waren ein Bestandteil der Rassentheorie Himmlers. Deshalb wurden auch Sterilisationsexperimenten besonders viel Zeit und Aufwand gewidmet.“

Allerdings stießen die Pläne auf Grenzen, weil für die riesigen Räume Polens und der UdSSR nicht genügend Deutsche zur Verfügung standen. Daher sah die Planungsbürokratie ein Eindeutschungskonzept vor, das neben Menschen aus Ländern „artverwandten Blutes“ auch die „wertvollen“ Teile der polnischen und sowjetischen Bevölkerung mit einbezog, was nichts Anderes bedeutete, als sie gewaltsam zu Deutschen zu machen. So ist es wenig verwunderlich, dass die Experten aus pragmatischen Gründen bei der Auswahl der autochthonen Bevölkerung nicht nur nach rassischem Wert, sondern auch nach Leistungsfähigkeit vorgehen wollten. Beispielhaft für diese selektive Bevölkerungspolitik, die der Mitarbeiterstab des „Generalplans Ost“ vorantrieb, sind etwa die Berechnungen von Friedrich Gollert, dem persönlichen Referenten des Distriktgouverneurs und Leiters der Abteilung Raumordnung des Distrikts Warschau. In einem Arbeitspapier im März 1943 entwarf er Szenarien, was künftig mit den 15 Millionen Polinnen und Polen des Generalgouvernements geschehen sollte. Sein Lösungsvorschlag zeigte die generelle Stoßrichtung des „Generalplans Ost“ auf: Aufspaltung und verschiedenartige Behandlung der Bevölkerung. 7-8 Millionen konnten nach Gollerts Meinung im Laufe der Zeit aufgrund ihrer als „durchaus günstig“ zu beurteilenden „Mischung aus germanischen und slavischen Elementen“ eingedeutscht werden. Eine zweite Gruppe war zumindest „arbeitsmäßig erwünscht“ bzw. „arbeitspolitisch wertvoll“, der Rest war „unbrauchbar“:

 „Zur restlichen dritten Kategorie von etwa 2-3 Millionen gehören alle diejenigen, die für uns Deutsche ohne jeden Wert sind. Das sind nicht nur die polnischen Fanatiker, die natürlich restlos ausgemerzt werden müssen, sondern es sind weiter alle asozialen Elemente, alle Kranken und sonstigen Personen, die auch arbeitsmäßig für unsere Interessen nicht in Frage kommen.“

„Siedlungsprojekt Zamość“

Bereits im Herbst 1942 war nach einer Weisung Himmlers mit dem „Siedlungsprojekt Zamość“ östlich von Lublin ein Pilotprojekt gestartet worden, um für die künftige Völkerverschiebung Erfahrungen zu sammeln. Die lokale Bevölkerung musste teils der Ansiedlung Volksdeutscher weichen und wurde entsprechend ihrem Gebrauchswert für den wirtschaftlichen Neuaufbau unter den neuen Herren sortiert. Ihr Schicksal hieß Eindeutschung, Zwangsarbeit oder Ermordung. Innerhalb von etwas mehr als drei Monaten wurden über 100.000 Menschen aus beinahe 300 Dörfern „ausgesiedelt“. Sie kamen zunächst in ein Durchgangslager, in dem sie in „Wertungsgruppen“ eingeteilt und dementsprechend behandelt wurden. Die Anweisungen von Gestapochef Heinrich Müller waren detailliert: Der als unproduktiv angesehene Teil der betroffenen Bevölkerung wurde dem Hungertod preisgegeben oder sofort nach Auschwitz deportiert. Ein anderer Teil, besonders Kinder, wurde „zur Eindeutschung bzw. Feinmusterung gebracht“, die Arbeitsfähigen kamen zur Zwangsarbeit nach Deutschland, wo sie die jüdische ZwangsarbeiterInnen in Berlin ersetzten, damit diese rasch umgebracht werden konnten. Schließlich waren die neu ankommenden, meist jungen polnischen Arbeitskräfte leistungsstärker und machten die rassisch auf der untersten Stufe angesiedelten Jüdinnen und Juden überflüssig. Ausgearbeitete Sonderfahrpläne der Reichsbahn sorgten für den effizienten Bevölkerungsaustausch zur Produktivitätssteigerung und Erfüllung des rassistisch orientierten Umvolkungs- und Vernichtungsplans. So kam es, dass etwa derselbe Zug, der die polnischen ZwangsarbeiterInnen nach Berlin brachte, mit den erwähnten jüdischen ArbeitssklavInnen beladen nach Auschwitz zurück kehrte und nach deren Entladung nach Zamość fuhr, um die als unproduktiv oder sonst wie als schädlich und unnütz Eingestuften abzuholen und ebenso nach Auschwitz zu verbringen.

Wenn man in Betracht zieht, dass die Nazis nach der Annexion Westpolens für jeden neu angesiedelten Deutschen zwei bis drei, in manchen Gebieten auch fünf Polinnen und Polen vertrieben hatten und in der Sowjetunion bei einer geplanten Ansiedelung von vier Millionen Deutschen einen „Aussiedlungs“-Schlüssel von 1:8 bzw. 1:10 planten, dann mussten etwa 36 Millionen SowjetbürgerInnen mit einer Behandlung ähnlich der Vorgangsweise beim „Siedlungsprojekt Zamość“ rechnen. Mit jedem weiteren Jahr des Weiterbestehens des Nationalsozialismus hätte weiteren Millionen Menschen der Tod durch Hunger, Vertreibung, Gaskammer und „Vernichtung durch Arbeit“ gedroht.

4. Utilitaristische Seiten des Völkermordes an der jüdischen Bevölkerung

„Der Jude“ galt in der NS-Rassenlehre als Antitypus zum deutschen „Arier“. Die jüdische Bevölkerung stellte für die Nazis die negative Gegenrasse schlechthin dar. In Fortführung des traditionellen Antijudaismus versinnbildlichte „der Jude“ den Weltverschwörer gegen die „arische Rasse“, der weltweit das große Kapital lenkte und gleichzeitig der Hauptträger des Bolschewismus war. Er war aus NS-Sicht Satan, ein zersetzender Parasit und Bazillus. Die „Lösung der Judenfrage“, was auch immer darunter in den verschiedenen Phasen der NS-HHerrschaft verstanden wurde, war also eine Frage der (Rassen)Hygiene und galt als Voraussetzung für den Aufbau einer von der deutschen „Herrenrasse“ beherrschten neuen Weltordnung. Die Ermordung des europäischen Judentums ist Ergebnis einer in die Praxis umgesetzten Rassenideologie, die in Deutschland zum zentralen Prinzip eines modernen Staates wurde. Der Massenmord, eng verbunden mit den imperialistischen Expansions- und Umvolkungsplänen sowie zahlreichen situativen Faktoren, wies stets auch utilitaristische Seiten auf, von denen nun einige wenige dargelegt werden.

4.1. Freikauf von Jüdinnen und Juden

Havaara

Nach der NS-Machtübernahme 1933 stand die deutsche Judenpolitik im Zeichen fortlaufender Diskriminierungen und Ausgrenzungen, die eine Massenauswanderung erzwingen sollten. Dabei kam es auch zu einer ungewöhnlichen Kooperation. Die Jewish Agency, die Vertretung der Jüdinnen und Juden gegenüber der britischen Mandatsmacht in Palästina, strebte ein Abkommen mit den deutschen Behörden an, um die jüdische Auswanderung nach Palästina zu lenken und dabei einen Teil des jüdischen Vermögens zu retten. Tatsächlich kam es bereits im August 1933 zu einer Vereinbarung der Jewish Agency mit dem Reichswirtschaftsministerium über den jüdischen Kapitaltransfer. Die Agency war an Menschen und Gelder für die Entwicklung der Infrastruktur eines jüdischen Palästina interessiert, während die deutsche Regierung mit ihrem Glauben an eine jüdische Weltverschwörung auf diese Weise einen befürchteten Wirtschaftsboykott abzuwenden hoffte und ihre jüdische Bevölkerung loswerden wollte. Das ausgehandelte Verfahren lief so ab, dass Auswanderungswillige ihr Vermögen bei einem jüdischen Finanzinstitut, der Palästina Treuhandgesellschaft, abzüglich diverser Steuern und Sonderzahlungen für die NS-Regierung einzahlten. Mit diesem Geld mussten deutsche Industriegüter gekauft und auf eigene Rechnung nach Palästina verschifft werden. Bei ihrer Ankunft in Palästina erhielten die deutschen Jüdinnen und Juden, nachdem ihnen in Deutschland noch durchschnittlich 12.000 bis 15.000 RM ausbezahlt worden waren, den Kaufpreis minus diverser Abgaben zurück. Für Deutschland ergab sich der Vorteil, dass die Exportwirtschaft gefördert und Arbeitsplätze geschaffen wurden. Dies war besonders in den Anfangsjahren der NS-Herrschaft wichtig, als die Arbeitslosigkeit so schnell wie möglich abgebaut werden musste. Auf diese Weise kamen die Nazis ihrem Ziel näher, Deutschland „judenrein“ zu bekommen und konnten daraus noch einen Profit erzielen.

Nachdem sich das Deutsche Reich wirtschaftlich gefestigt und seine Furcht vor einem Boykott verloren hatte, wurde die Allgemeine Treuhandstelle für jüdische Auswanderung ins Leben gerufen, die zu äußerst schlechten Bedingungen für die Betroffenen einen ähnlichen Kapitaltransfer in andere Länder als Palästina abwickelte. Die Abzüge bei derartigen Auswanderungsgeschäften zugunsten des NS-Staates wurden daher kontinuierlich von 25% auf bis zu 95% 1939 gesteigert. Bis 1939 konnten rund 52.000 Jüdinnen und Juden auf legalem Weg aus dem Deutschen Reich nach Palästina emigrieren. Diese Zahl entsprach rund 10% der jüdischen Gesamtbevölkerung.

Restriktive Flüchtlingspolitik

Ab 1938 radikalisierte sich die antijüdische Politik, die zunehmend zu einer brutalen Vertreibung bei gleichzeitiger Enteignung mit Hilfe von Terrormaßnahmen überging. Nach österreichischem Vorbild wurde die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung aus dem Wirtschaftsleben mit einer modernisierenden Strukturbereinigung verbunden, welche die Produktivität heben sollte. Dieses „Wiener Modell“ der „Arisierung“ funktionierte nach dem Motto: „Der Jud muss weg, sein Gerstl bleibt da.“ Das zunehmende Problem, das sich der jüdischen Minderheit stellte, bestand darin, dass die potentiellen Aufnahmeländer ihre Grenzen dicht machten.

Anfang 1938 ergriff der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt eine Initiative, um ein Staatenbündnis mit den USA an der Spitze zu schmieden. Ein internationales Gremium sollte mit der NS-Regierung die Auswanderungsmodalitäten festlegen. Roosevelt wollte etwas für die bedrängte jüdische Bevölkerung in Deutschland tun, allerdings sollte dies weder etwas kosten, noch das Quotensystem der amerikanischen Einwanderungspolitik wesentlich verändern. Doch auch die anderen Staatsregierungen dachten und handelten so. Die Flüchtlingskonferenz von Évian in Frankreich im Juli 1938 scheiterte, weil die Bereitschaft fehlte, mittellose Jüdinnen und Juden aufzunehmen. Entweder mangelte es ihnen in den Augen vieler Regierungen an Wert, weil sie arm waren bzw. die falschen Qualifikationen aufwiesen. Oder sie wurden aus rassistischen Gründen abgelehnt, eben weil sie jüdisch waren.

Die teilnehmenden Staaten einigten sich darauf, Verhandlungen mit Nazideutschland aufzunehmen, in denen die Auswanderung der jüdischen Bevölkerung mit einem Teil ihres Vermögens festgelegt werden sollte. Sie gingen von der Annahme aus, dass mit finanziellen Mitteln ausgerüstete Flüchtlinge eher auf Aufnahmebereitschaft stoßen würden. Selbst wollten sie jedoch so wenig Mittel wie nötig aufbringen, um jüdische Flüchtlinge zu retten bzw. unterzubringen. Immerhin waren die USA bereit, ihr Flüchtlingskontingent tatsächlich auszuschöpfen, sodass es 1938/39 sogar zu einer Überschreitung der jährlichen Einwanderungsquote von etwas über 27.000 auf fast 38.000 deutsche bzw. österreichische Jüdinnen und Juden kam. England beschloss zur Abmilderung rund 10.000 jüdische Kinder aus Österreich, Deutschland und der ehemaligen Tschechoslowakei aufzunehmen. Für einen wesentlichen Teil der Kosten für die Kinder und auch für erwachsene jüdische Flüchtlinge mussten allerdings jüdische Organisationen selbst aufkommen.

Ein durch die Konferenz in Évian gegründetes Intergovernmental Committee on Refugees vereinbarte schließlich mit Nazideutschland Leitlinien, nach denen 400.000 Jüdinnen und Juden die Ausreisebewilligung bekommen sollten. Der Plan stammte vom Wirtschaftsexperten Hans Fischböck, einem Österreicher, der sich bereits als Arisierungsspezialist erwiesen hatte, und kam einer Exportförderung Deutschlands gleich. Demnach sollte ein Viertel des auf sechs Milliarden RM geschätzten jüdischen Vermögens in einen Treuhandfonds in Deutschland eingezahlt werden und die gleiche Summe von jüdischen Organisationen außerhalb des Reiches als Darlehen für die Kosten von Auswanderung und Ansiedlung aufgebracht werden. Die EmigrantInnen sollten mit ihrem Geld aus dem Fonds deutsche Waren erwerben und das Darlehen durch den Verkauf der Waren im Ausland tilgen. Die Ausführung des Plans scheiterte aber am Ausbruch des Krieges und dem vergeblichen Bemühen der jüdischen Organisationen außerhalb Deutschlands, das Projekt mit den hierfür erforderlichen immensen Summen zu finanzieren. Der Westen wollte die jüdischen Flüchtlinge retten, war aber nicht bereit, in entsprechendem Maße Geld zur Verfügung zu stellen oder die Menschen unbürokratisch einreisen zu lassen.

10.000 LKWs für 1 Million Jüdinnen und Juden

Während die Vernichtung des europäischen Judentums bereits in Gang war, erhielt Reichsführer-SS Heinrich Himmler von Hitler im Dezember 1942 die Befugnis, Jüdinnen und Juden freizulassen, wenn bedeutende Deviseneinnahmen bzw. namhafte Gegenwerte dadurch zu erzielen waren. Die NS-Führung glaubte daran, dass der Westen zu einem Freikauf im Sinne eines Lösegeldverfahrens bereit war. In der Folge wurden verschiedene Modelle angedacht. Das Auswärtige Amt prüfte die Möglichkeit der Unterbringung von 20.000-30.000 Jüdinnen und Juden im KZ Bergen-Belsen zum Zwecke eines Austausches gegen Geld und deutsche Kriegsgefangene. In Verhandlungen mit Großbritannien wurde die Ausreise  jüdischer Kinder gegen die Freilassung Deutscher im Verhältnis 1:4 erörtert. Bei entsprechend verlockendem Preis waren Hitler und Himmler geneigt, nicht alle Jüdinnen und Juden umzubringen. Dazu stellt Yehuda Bauer fest: „Himmler wäre unter bestimmten Voraussetzungen bereit gewesen zu verkaufen. Doch es gab keine Käufer.“

Die jüdische Minderheit hatte in den Augen der Nazis zwar den Wert von Parasiten, die es auszurotten galt, doch wenn die NS-Führung taktische und strategische Vorteile sah sowie die Möglichkeit aus den Juden Nutzen zu ziehen, war sie durchaus bereit, Ausnahmen zuzulassen bzw. vorübergehend die Vernichtung auszusetzen. Reichsführer-SS Heinrich Himmler versuchte mit Hilfe des ehemaligen Schweizer Bundespräsidenten Jean-Marie Musy und jüdischen Unterhändlern aus dem Reich Kontakte zu internationalen jüdischen Organisationen und vor allem zum Westen herzustellen, um Gegengeschäfte vorzuschlagen. Er war daran interessiert, Geld, Waren und deutsche Kriegsgefangene gegen das Leben von Jüdinnen und Juden auszutauschen, um Deutschland im „Endkampf“ zu stärken. Himmler glaubte unter dem Vorzeichen der drohenden Niederlage ein Arrangement mit den Westalliierten treffen zu können. Er wollte einen Keil zwischen dem Westen und der UdSSR treiben und hoffte zu einem Separatfrieden durch die Bereitschaft zu einer vorläufigen Aufhebung der Massenmorde zu gelangen. Ebenso dachte Himmler an sein eigenes politisches Überleben – mit oder ohne Hitler. Auch Eichmann legte sein Kalkül offen: „Mit den arbeitsfähigen ungarischen Juden den Bedarf an Arbeitskräften abzudecken und das überschüssige Menschenmaterial gegen nutzbringende Waren einzutauschen.“

Der Preis für all diese Überlegungen waren jüdische Leben, ihr Wert war variabel. Bei den mannigfachen Treffen diverser Unterhändler in Istanbul und vor allem in der Schweiz, wo sich Himmler persönlich mit Musy traf und sich sogar ein hoher SS-Offizier und ein offizieller Vertreter der US-Regierung begegneten, kam es zu einer Reihe von Vorschlägen. Eichmann forderte für die Freilassung einer Million Jüdinnen und Juden 10.000 LKWs, die von jüdischen Organisationen aufzubringen waren. Eine jüdische Organisation versprach 20 Millionen Schweizer Franken zu beschaffen, wenn Hunderttausende freigelassen würden. Als Zeichen des guten Willens erbrachte Himmler eine Vorleistung, indem er Anfang Februar 1944 1.210 Jüdinnen und Juden aus dem KZ Theresienstadt die Ausreise in die Schweiz ermöglichte. Für einen Gegenwert von sieben Millionen Schweizer Franken genehmigte Eichmann unter Rückendeckung Himmlers Ende Juni 1944 die Zugfahrt von 1.684 ungarischen Jüdinnen und Juden ebenfalls in die Schweiz. Neben den Bemühungen von Neutralen trugen die Verzögerungen, die bei den Vernichtungsaktionen wegen der laufenden Verhandlungen eintraten, dazu bei, dass im Zuge der Vernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden wenigstens ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung Budapests überlebte.

Bei den Westalliierten stand die Rettung jüdischen Lebens nicht im Mittelpunkt ihrer Entscheidungen, da militärische Überlegungen Priorität hatten. In ihrer Sichtweise konnte nur die schnellstmögliche Beendigung des Krieges für die Rettung von (jüdischen) Menschenleben sorgen. Darum sollten alle Kräfte für den Sieg gebündelt und keine militärischen Mittel für nicht-militärische Zwecke aufgewandt werden. Ein Austausch deutscher Kriegsgefangener oder die Lieferung kriegswichtiger Waren, etwa von LKWs, kam für die Westmächte nicht in Frage, da dies den Kriegsgegner gestärkt hätte. Eine Freilassung hunderttausender Jüdinnen und Juden, die quer durch Europa in die Freiheit geschleust hätten werden müssen, hätte unweigerlich zu einem vorübergehenden Waffenstillstand geführt. Zudem waren die Westalliierten darauf bedacht, der UdSSR, welche die Hauptlast des Krieges gegen Nazideutschland trug, zu demonstrieren, dass es kein Ausscheren aus der gemeinsamen Allianz geben konnte. Eines zeigte dieses Vorgehen mit klarer Deutlichkeit: Der jüdische Einfluss in den USA und in Großbritannien war viel zu gering, als dass die Rettung des europäischen Judentums in diesen Ländern als vordringlich gesehen worden wäre.

4.2. Zum Wert der jüdischen Bevölkerung im Holocaust

Bis zur so genannten „Endlösung der Judenfrage“ mit rund sechs Millionen getöteten Menschen gab es mehrere Etappen. Nach der Phase der Massenzwangsauswanderung wurden mit Kriegsbeginn nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass neben der rund halben Million deutscher, österreichischer und tschechischer Jüdinnen und Juden weitere rund 1,7 Millionen in Polen in deutsche Hand fielen, für die eine Zwangsemigration nicht möglich war, Deportationspläne unter Inkaufnahme hunderttausender Toter auf den Weg gebracht. Ziel einer derartigen „territorialen Endlösung“ war die Konzentration der jüdischen Bevölkerung innerhalb eines Jahres im polnischen Generalgouvernement, von wo sie weiter in die UdSSR vertrieben werden sollten. Angepeilt wurde nicht die völlige Vernichtung, sondern die völlige Vertreibung.

Die Gauleiter des Großdeutschen Reiches, allen voran der Wiener Gauleiter Baldur von Schirach, drängten vehement darauf, ihre jüdische Bevölkerung so schnell wie möglich los zu werden und von ihrer Deportation ins Generalgouvernement wirtschafts- und sozialpolitisch zu profitieren. Nach einer derartigen Unterredung bei Hitler notierte Propagandaminister Goebbels in sein Tagebuch am 5. Jänner 1941: „Alle möchten ihren Unrat ins Generalgouvernement abladen. Juden, Kranke, Faulenzer etc.“

Ab Mai 1940 stand einige Monate der Plan, die jüdische Bevölkerung zur Auswanderung nach Afrika (Madagaskar) zu zwingen, im Mittelpunkt der Überlegungen, bis sich auch diese Vorstellung als nicht realisierbar herausstellte. In der Zwischenzeit kam es zu einer beschleunigten Ghettoisierung der Jüdinnen und Juden.

Nach dem Scheitern der Pläne einer „territorialen Endlösung“ fiel im Laufe des Jahres 1941 im Zuge der Planung und Durchführung des Angriffs auf die UdSSR die Entscheidung zur totalen Liquidierung des europäischen Judentums als Gesamtprojekt. Das Judentum als Weltfeind und völlig „minderwertige“ Rasse sollte zwar ausgelöscht werden, doch verloren die Nazis nicht völlig das Interesse an der Nutzung der Arbeitskraft von Jüdinnen und Juden.  Reinhard Heydrich, Organisator des Holocausts als Leiter des SS-Reichssicherheitshauptamtes, und Adolf Eichmann beabsichtigten zunächst eine Ausrottung durch Umsiedlung. Sie dachten daran, die arbeitsunfähigen Jüdinnen und Juden in weit östlich gelegene Sterbereservate, Sumpfgebiete und ans Eismeer zu vertreiben, während die Arbeitsfähigen Sümpfe trocken legen und neue Straßen in der UdSSR für die deutschen Eroberer bauen sollten.

Schließlich setzte sich im Zuge der enttäuschten Siegeserwartung ab Mitte Oktober 1941 der Beschluss zur Durchführung der „Endlösung“ in Form der Errichtung großer Vernichtungslager durch. Propagandaminister Goebbels Tagebucheintragung vom 2. November 1941 lautete: „Die Juden sind die Läuse der zivilisierten Menschheit. Man muß sie irgendwie ausrotten“. Dementsprechend symptomatisch war der Einsatz des Insektenvernichtungsmittels Zyklon B im Zuge der Vernichtung des europäischen Judentums.

Bei der Wannseekonferenz am 20. Jänner 1942 ging es nur mehr um die Vereinheitlichung der antijüdischen Vernichtungspolitik sowie um die Lösung technischer und organisatorischer Probleme zur Durchführung des Völkermordes. Heydrich führte aus, dass die deportierte jüdische Bevölkerung in den Arbeitseinsatz komme, bei dem „zweifelsohne ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen“ werde. Der „Restbestand“ sollte „entsprechend behandelt werden“, worunter er das bereits in den KZs entwickelte Konzept der „Vernichtung durch Arbeit“ verstand, das die sofortige Liquidierung der Arbeitsunfähigen mit einschloss. Die Selektion der Menschen an der Rampe in Auschwitz repräsentiert diesen rassistisch-utilitaristischen Zugang.

Massenmord nach fehlgeschlagener Ökonomisierung der Ghettos

Auch bei der Ghettobewirtschaftung und letztendlich ebenso bei der Liquidierung der Ghettos spielten Nützlichkeitserwägungen eine Rolle. Wenngleich der Wert eines Juden bzw. einer Jüdin aufgrund des Rassenantisemitismus in den Augen der Nazis praktisch gleich Null war, erfolgte der Zugriff auf die Arbeitskraft im Bemühen um Rentabilität. Das Selektions- und Fürsorgeprinzip im Ghetto richtete sich stets zuerst gegen die Unproduktiven. Als ein Gutachten der Wirtschaftsbehörde des vom Deutschen Reich besetzten polnischen Generalgouvernements ermittelte, dass es selbst bei brutalster Zwangsarbeit unprofitabel war, die jüdische Bevölkerung des Warschauer Ghettos am Leben zu halten und ein Zuschuss von 55 Millionen RM jährlich hierfür nötig war, drängten die Spitzen von Behörden und Partei im Generalgouvernement auf den Massenmord. Rudolf Gater, der im Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit im Generalgouvernement vertreten war, schlug deshalb vor, die Unproduktiven verhungern zu lassen und das Ghetto durch Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten für die GhettoinsassInnen zu ökonomisieren. So kam es etwa zu einer Umverteilung der Lebensmittel von den Arbeitsunfähigen zu den Produktiven. Deutsche Firmen konnten durch Kooperation mit dem Ghetto ein Maximum an Profit aus jüdischer Zwangsarbeit erzielen. Doch trotz der größeren Wirtschaftlichkeit und der sich dadurch gleichzeitig enorm erhöhenden Todesraten blieb das Ghetto unrentabel. Schließlich war es einfach billiger und belastete die Transportkapazitäten weniger, wenn die Menschen in die Vernichtungslager gefahren wurden, als die „unnützen Esser“ mit Zugladungen versorgen zu müssen.

Eine ähnliche Lage ergab sich auch im Ghetto Łódź. Nach einer Überprüfung des Rechnungshofes wurde das Ghetto zwar wirtschaftlich effizienter gemacht und Zehntausende inner- und außerhalb des Ghettos zur Arbeit verwendet. Aber die Löhne reichten nicht aus, dass das Ghetto schwarze Zahlen hätte schreiben können. SS-Sturmbannführer Höppner berichtete daraufhin im Juli 1941 an Eichmann aus der für Łódź zuständigen Gauhauptstadt Posen: „Es besteht in diesem Winter die Gefahr, daß die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgend ein schnell wirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen.“

Was folgte, waren permanente, von Ärzten vorgenommene Selektionen der Ärmsten, sozial Schwächsten und aller Menschen ohne Arbeitskarte, um sie im Lager Chelmno in Gaswagen zu ermorden. Die Leerung der Ghettos und rasche Ermordung von rund einer Million polnischer Jüdinnen und Juden bis Ende 1942 stand auch in Zusammenhang mit den weiter oben bereits erwähnten Nahrungsmittelengpässen im Deutschen Reich. Im August 1942 stellte Karl Naumann, der Leiter der Hauptabteilung Ernährung im Generalgouvernement bei einer Regierungssitzung fest: „Die Versorgung der bisher mit 1,5 Millionen Juden angenommenen Bevölkerungsmenge fällt weg, und zwar bis zu einer angenommenen Menge von 300 000 Juden, die noch im deutschen Interesse als Handwerker oder sonst wie arbeiten. […] Die anderen Juden, insgesamt 1,2 Millionen werden nicht mehr mit Lebensmitteln versorgt.“

Selbst über den Tod hinaus wussten die Nazis aus ihren Opfern Kapital zu schlagen. Die SS des KZ Buchenwald stellte 1941 eine Rentabilitätsrechnung für einen Häftling an, die sich aus dem Nettogewinn durch den Verleihlohn abzüglich Ernährung und Bekleidungs-Amortisation bei einer durchschnittlichen Lebensdauer von neun Monaten plus dem „Erlös aus rationaler Verwertung der Leiche“ (Zahngold, Kleidung, Wertsachen, Geld) minus Verbrennungskosten zusammensetzte. Der derart berechnete durchschnittliche Gesamterlös betrug 1.631 RM. Dazu kamen noch Gewinne aus Knochen- und Aschenverwertung.