Aus: Eliskases/Moser/Schönauer, Bildungspuzzle. Reflexionen zur Weiterbildung, Innsbruck-Wien 1999 (Erwachsene lernen. Schriftenreihe des Abendgymnasiums Innsbruck 1), S. 11-52.
Horst Schreiber
Fortbildung und Schulentwicklung: Bestandsaufnahme – Hintergründe – Perspektiven
1. Die Ausgangslage
So wie eines der Ziele des Unterrichts am Innsbrucker Abendgymnasium darin besteht, die Grundbereitschaft zu „lebenslangem Lernen“ zu fördern, genauso sieht es ein immer größer werdender Teil der Lehrenden als unumgängliche Notwendigkeit an, diese Grundhaltung auch selbst zu leben und in die Tat umzusetzen. Auf der einen Seite ist damit eine traditionell fest verankerte berufliche Weiterbildung gemeint, die an ein dezidiertes Verwertungsinteresse der Schule gekoppelt ist. Diese Form der Weiterbildung ist in erster Linie auf die im Arbeitsprozeß erforderlichen Qualifikationen ausgerichtet und sieht ihre Schwerpunkte eher in fachspezifischen Inhalten, Methoden und Zielsetzungen. Dazu gesellt sich in einem fließenden Übergang immer mehr eine berufsbegleitende Weiterbildung, die im Sinne der Erweiterung des deutlich funktionalen und stark an Requalifizierung gebundenen Begriffs „lebenslanges Lernen“ treffender als „lebensbegleitendes Lernen“ zu beschreiben ist. Darunter ist ein offener Lernprozeß zu verstehen, der die persönlichen Interessen der Weiterbildungswilligen über das rein Markt- und Betriebswirtschaftliche hinaus miteinbezieht, wobei auch in diesem Falle die Institution Schule in hohem Maße Nutzen zieht. Diese mehr allgemeinbildende und überfachliche Weiterbildungsschiene steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff der sogenannten Schlüsselqualifikationen, die auf der Ebene der Sozialkompetenz den Umgang der Menschen miteinander betreffen und sich auf der Ebene der personalen Kompetenz im Verhalten als Einzelperson ausdrücken. Im Bereich der Methodenkompetzenz wird die Befähigung zu einem zielgerichteten, planmäßigen Vorgehen bei der Erarbeitung von beruflichen und privaten Aufgaben anvisiert. Aufgrund dieser breiten Auslegung von Schlüsselqualifikationen lassen sich etwa Gestalt- und Theaterpädagogik, Kreatives Schreiben, Neurolinguistisches Programmieren (NLP), Themenzentrierte Interaktion (TZI) usw. als persönlichkeitsstützende Ausbildungslehrgänge begreifen, die mithelfen, sowohl den sachlichen Bereich als auch die mit dem Begriff Schlüsselqualifikationen umschriebenen Kompetenzen zu fördern. Freundlinger definiert Schlüsselqualifikationen folgendermaßen:
„Alle Fähigkeiten, die zwar sehr wichtig für die Berufsausübung sind, die aber außer für den bestimmten Beruf auch für andere Berufe und für andere Lebensbereiche Bedeutung haben, werden Schlüsselqualifikationen genannt. Es handelt sich dabei oft um höhere Fähigkeiten, die Aspekte der Persönlichkeitsbildung beinhalten, wie Teamfähigkeit, theoretisches Denken, Selbständigkeit usw.“
Soziale Ungleichheit durch Weiterbildung
Die ungeheure Bedeutungszunahme der Weiterbildung führt zwangsläufig dazu, daß das Bildungskapital, das bis jetzt durch staatlich geregelte Abschlüsse in Schule, Universität und Lehre zur Verfügung gestellt wurde und die berufliche Stellung bzw. den gesellschaftlichen Status bestimmten, künftig vermehrt in den Weiterbildungsinstitutionen produziert werden wird. Die Leistungsnachweise der Weiterbildung werden also immer wichtiger für Aufstieg, Erfolg und Einkommen. Damit drängen sich aber automatisch Fragen auf: „Wer vergibt diese Titel, wer erstellt die Leistungskriterien, wer garantiert die Anerkennung?“ Die Antwort der Wirtschaft fällt eindeutig aus. Sie spricht sich vehement gegen staatliche Formalisierung der Weiterbildung aus. Deshalb soll es keine gesetzlichen Zulassungsregeln für Anbieter und Lehrende („Trainer“) geben und keine staatliche Anerkennung von Zertifikaten, da Weiterbildung sich ihre Anerkennung am Markt selbst schaffen müsse. Ferner werden fixe Lehrpläne und übertriebene Standardisierung als „Klotz am Bein für alle Innovationen“ abgelehnt, das staatliche Bildungsmonopol sei noch stärker aufzubrechen als es bisher bereits geschehen ist. Richtigerweise wird festgehalten, daß innerbetriebliche Weiterbildung all diesen Formalisierungsabsichten von außen her entzogen ist. Genau hier hakt die Kritik Geißlers ein, die auch hinsichtlich der Schule Aktualitätswert besitzt:
„Das heißt, daß Abschlüsse, Titel, Zertifikate in den meisten Fällen ohne staatlichen Einfluß und ohne staatliche Anerkennung im Bereich der Weiterbildung vergeben werden. Und auch die Zugänge zu den Veranstaltungen des lebenslangen Lernens werden nicht öffentlich kontrolliert. Die betrieblichen Personalchefs/Führungskräfte erhalten durchs Konzept des lebenslangen Lernens einen immensen gesellschaftlichen Machtzuwachs. Sie bestimmen durch Selektion über Karrieren, gesellschaftlichen Status, Einkommen und Ansehen. […]. Innerbetriebliche Weiterbildungen bedürfen in den meisten Fällen positiver Vorgesetztenentscheidungen, wenn sie realisiert werden sollen, denn das arbeitende Individuum hat keinen Rechtsanspruch und ist auch nicht frei in seiner Entscheidung zugunsten der Weiterbildungs-Teilnahme. Jene, die die Marktwirtschaft repräsentieren, realisieren diese gerade nicht in ihrem internen Machtbereich. Die Funktion der betrieblichen Erwachsenenbildung ist primär die Reproduktion sozialer Ungleichheiten und Legitimation dieser Ungleichheit. Von Lernoffenheit ist in diesem Bereich wenig zu sehen. […]. So gesehen macht das lebenslange Lernen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abhängiger und nicht unabhängiger, wie es ihnen vielfach versprochen wird. Wissen und Können bedeutet eventuell mehr Macht, aber Wissen und Können ermöglichen und verweigern bedeutet auf jeden Fall noch mehr Macht, Selektionsmacht eben.“
Kostenabwälzung auf die Fortbildungswilligen
Daß Erwachsenen- bzw. Weiterbildung noch mehr als bisher ein konstitutiver Bestandteil des kapitalistischen Verwertungsprozesses zu werden droht, ist auch an der Diskussion um die anfallenden Kosten abzulesen. Weniger Staat und mehr privat meint u.a. auch das Eingehen auf Forderungen der Wirtschaft, die nachdrücklich auf die Einführung einer Altersgrenze für die kostenfreie Erstausbildung drängt. Alles, was nach dieser Zeit an Bildungserwerb anfällt, also auch der Besuch der Abendschulen, sollte kostenpflichtig werden. Während in Wirklichkeit nicht nur die fachorientierte Weiterbildung, sondern entsprechend den neuen Anforderungen (Teamfähigkeit, Kommunikation, Emotionalität etc.) gerade auch die allgemeinbildende und persönlichkeitsfördernde Fortbildung dem Betrieb zugute kommt, wird dieser Umstand, daß mit Hilfe des Prinzips des lebenslangen Lernens die gesamte Existenz der Individuen erfaßt wird, um das „Humankapital“ als einen der entscheidenden Produktivitätsfaktoren optimal der modernen Unternehmensführung dienstbar zu machen, verschleiert und negiert. Stattdessen wird betont, daß es darauf ankomme, den Charakter der postsekundären Bildung als Investition in die individuelle berufliche Zukunft, aber auch den möglichen Konsumaspekt (berufsferne [sic!] Selbstverwirklichung) bewußt zu machen. Die Idee von der Bereitstellung von Bildungsangeboten als Grundversorgung würde ihre Berechtigung dann verlieren,
„wenn mit der Inanspruchnahme spezieller Bildungsgänge von bestimmten Gruppen Vorteile lukriert werden können. Im besonderen Maße gilt dies für die berufliche Weiterbildung, wo man feststellen kann, daß je nach dem, ob bei der Bildungsmaßnahme die Interessen des einzelnen oder jene des Unternehmens im Vordergrund stehen, auch erwartet werden kann, daß die Aufwendungen (gemeint sind hier Zeit und Geld) von den Nutznießern selbst getragen werden.“
Während die Unternehmen ganz besonders am Ausbau steuerrechtlicher Begünstigungen für Bildungsinvestitionen sowie an einem Höchstmaß permanenter Lernbereitschaft ihrer Arbeitskräfte interessiert sind, wird die an den (Hoch)Schulen „´gelernte´ Illusion der Kostenlosigkeit von Bildung“ als Hemmschuh der Entwicklung zur lernenden Gesellschaft angesehen. „Ein hoher Selbstfinanzierungsgrad“ durch TeilnehmerInnengebühren bleibe die bessere Alternative zum finanziellen Engagement des um solide Budgets ringenden Staates oder einer allzu großen Belastung der Betriebe. „Aus einem Anspruchsdenken abgeleitete“ arbeitnehmerInnenfreundliche Modelle wie etwa jenes des Bildungsurlaubes würden keine erhöhte Weiterbildungsaktivität bewirken. Statt dessen wären flexible Arbeitszeiten, die den Faktor Arbeitskraft durch Wegfall von Überstundenzahlungen und erhöhter Auslastung im Betrieb verbilligen, der gangbarere Weg. Um den Zugang zur Weiterbildung nicht zu sehr einzuengen wird aus wirtschaftlicher Sicht auch eine Subjektförderung in Form von Bildungsschecks, bei der sich in erster Linie die öffentliche Hand zu engagieren hat, empfohlen. In den USA hat sich gezeigt, daß eine ausreichende Dotierung dieser Schecks das staatliche Budget erheblich belasten würde. Daher sind die zur Verfügung gestellten Mittel in Form eines Bildungskontos viel zu niedrig, als daß sich Mittelstands- und arme Familien in die wirklich bedeutenden und begehrten Bildungsgänge und Privatschulen „einkaufen“ können. Ergebnis des Versuchs, soziale Probleme des Bildungszuganges mit Methoden des Marktes zu lösen, ist eine weitere Schwächung des öffentlichen Schulwesens, dem Mittel entzogen wurden, um das Bildungsschecksystem zu finanzieren. Im Bereich der Weiterbildung, die an Bedeutung der Erstausbildung in Zukunft zumindest ebenbürtig sein wird, ist die Kostenfrage und die soziale Transparenz der springende Punkt. Es ist zu befürchten, daß die Reproduktion sozialer Ungleichheit mit Hilfe des (Weiter)Bildungssystems noch dominanter wird und daß Ungleichheit nicht mehr primär über die Schule als vielmehr über die Erwachsenenbildung/Weiterbildung erzeugt werden wird.
Während also neue Formen der Finanzierung – von Bildungsgutscheinen bis hin zur Kofinanzierung der Weiterbildung durch die TeilnehmerInnen selbst – die Kostendiskussion immer stärker bestimmen, weisen die aufgewendeten öffentlichen Bildungsausgaben in den letzten Jahren europaweit nicht zufällig eine rückläufige Entwicklung auf. Die Einsparungspotentiale werden dabei durch eine Evaluation des Mitteleinsatzes der öffentlichen Ausgaben im Sinne einer Kosten-Nutzen-Bewertung ausgelotet.
Die sogenannte Bildungsgesellschaft benötigt daher einen neuen Bewußtseinsschub mehr in die Richtung, daß sich der Staat trotz entgegengesetzter Tendenzen materiell stärker engagiert und als einer der größten Bildungsnachfrager wieder kräftiger investiert. In einer derartigen Konstellation wäre eine Evaluation der getätigten Investitionen selbstverständlich nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern zu begrüßen. Festzuhalten ist jedoch, daß in Österreich das Budget für Erwachsenen- bzw. Weiterbildung generell trotz der Bedeutung, die ihr gerade in jüngster Zeit zugesprochen wird, sehr gering ausgestattet ist. Die Notwendigkeit, analog zur Forschungsmilliarde Weiterbildungsmillionen zur Verfügung zu stellen, um die Bevölkerung an der Entwicklung von Bildung und Wissenschaft partizipieren zu lassen sowie die Weiterbildung zu professionalisieren, ist offenkundig. Zur ausreichenden finanziellen Ausstattung gehört auch die Erstellung eines Planes und eines Programms für Erwachsenen- und Weiterbildungsinstitutionen, was sie denn eigentlich im Detail leisten sollen und wie die Bildungsinstitutionen sinnvoll miteinander verzahnt werden können.
Schulautonomie, Dezentralisierung und Deregulierung als Antwort auf die Nachfrage nach einem neuen Anforderungsprofil in einer Arbeitswelt im Umbruch
Im öffentlichen Bewußtsein nimmt der Umstand immer mehr Platz ein, daß wir auf dem Weg zu einer lernenden Gesellschaft sind. Die Veränderungen in der Arbeitswelt und im Anforderungsprofil der ArbeitnehmerInnen erzeugen einen beträchtlichen Veränderungsdruck für das Lehren und Lernen. Nachgefragt wird eine neue Art von (Aus)Bildung und lebenslangem Lernen, die dem Bedarf nach ständiger Requalifikation gerecht werden sollen. Die Entwicklung zur Informationsgesellschaft und der enorme Technologieschub führen zur Herausbildung einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation, zunehmendem Wettbewerb der drei großen Wirtschaftsblöcke im Sinne des Schlagwortes der „Globalisierung“ und zu einer neuen Unternehmenskultur, die versucht, der postfordistischen Produktionsweise Rechnung zu tragen. Die damit verbundenen dramatischen Veränderungen faßt die Europäische Kommission in ihrem Weißbuch „Lehren und Lernen“ so zusammen: „Innerhalb der Unternehmen führen sie zu neuen Arbeits- und Organisationsformen, in den Schulen fordern sie neues Wissen und neue Kompetenzen, in der Gesellschaft lösen sie Ängste, Massenarbeitslosigkeit, Fremdenfeindlichkeit und soziale Ausgrenzung aus.“
Dementsprechend formieren sich in der öffentlichen Diskussion neue Anforderungen an unser Schulsystem, indem nun mehr Konkurrenz, Effizienz, kostenschonender Einsatz der Mittel, Autonomie, Selbstverantwortlichkeit, unternehmerisches Denken, betriebswirtschaftliche Sichtweise, KundInnenorientierung, neue Lernkultur, Schlüsselqualifikationen, Bereitschaft zu lebenslangem Lernen usw. gefordert werden. Diesem von Wirtschaft, Politik und wissenschaftlicher Forschung getragenen Diskurs können sich die Bildungseinrichtungen nicht entziehen.
Da gerade in den letzten 20 Jahren die Reformen „von oben“ die Bildungslandschaft nur wenig verändern konnten und größere bildungspolitische Weichenstellungen durch den Umstand, daß Schulgesetze einer Zweidrittelmehrheit im Nationalrat bedürfen, blockiert werden, ging die Bildungspolitik dazu über, den Schulen mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort einzuräumen, um auf diesem Weg die „Windstille“ im Bildungssystem aufzubrechen. Diese grundlegende Strukturänderung „von unten“ im Sinne einer selbstorganisierten Schulentwicklung unter Ausbau der Planungs- und Entscheidungsprozesse an der Schule selbst soll also gemäß den programmatischen Vorstellungen des Unterrichtsministeriums unter Rücknahme zentraler Vorgaben durchgeführt werden. Die Stichworte sind größere pädagogische, finanzielle und personelle Autonomie für die einzelne Schule, um sie zu einer flexiblen, lernenden Organisation zu machen, die ihre spezifischen Probleme eigenständig zu lösen imstande ist. In Verbindung mit einer neoliberalen Deregulierungsphilosophie und dem Sparkurs der öffentlichen Haushalte scheint diese sich noch in den Ansätzen befindliche Dezentralisierung im Schulbereich eine Dynamik auszulösen, die mit einer tiefgreifenden Veränderung der bisherigen Funktionsmechanismen im österreichischen Bildungssystem in bezug auf innere Schulreform, Reorganisation der Strukturen und noch unabsehbaren Folgen für Personalentwicklung, Dienst- und Besoldungsrecht einhergeht. Im Gegensatz zu den zentral geplanten Schulversuchen der 70er-Jahre werden für diese Innovationsarbeit und die überaus schwierige Übergangsphase keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung gestellt. Der erwünschte Aufbruch steht unter den Vorzeichen des Mangels und der Einsparungen an den Schulstandorten.
Wenn nun in den folgenden Beiträgen LehrerInnen am Abendgymnasium über ihre persönlichen Zugänge zur Weiterbildung berichten, scheint es angebracht, auf einige Entwicklungslinien und Rahmenbedingungen einzugehen, in die der Bereich (LehrerInnen)Fortbildung eingebettet ist. In diesem Zusammenhang ist es daher unvermeidlich, auch den vorherrschenden Diskurs bezüglich Schulentwicklung und Schulautonomie, mit dem der Themenkomplex Aus- und Weiterbildung untrennbar verbunden ist, in jenen für die Thematik des Bandes relevanten Bereichen zu berücksichtigen. Dabei wird das Abendgymnasium als Beispiel für eine Schule als „lernende Organisation“ präsentiert.
Im vorliegenden Aufsatz werden zunächst Merkmale der veränderten kapitalistischen Produktionsweise und die daraus resultierende Erwartungshaltung der Wirtschaft an ein neues Qualifikationsprofil mit den entsprechenden Konsequenzen für die Schule herausgearbeitet. Arbeitsstil und Arbeitsethos dieses als postfordistisch bezeichneten Arbeitsmodells treten auch insofern in den Mittelpunkt der Betrachtung, als diese für die Aus- und Weiterbildung, aber auch für die Organisation der schulischen Arbeit und die Beziehungen zwischen den Lehrkräften durchaus von Belang sind.
Anschließend soll der Bildungsbegriff, wie er vor allem von der Europäischen Kommission in ihrem Weißbuch „Lehren und Lernen“ und in den darauf erfolgten Reaktionen diskutiert wurde, näher beleuchtet und die sich daraus ergebenden möglichen Auswirkungen für den Weiterbildungsbereich untersucht werden. Desweiteren wird am Beispiel des Innsbrucker Abendgymnasiums aufgezeigt, mit welchen Schwierigkeiten eine Schule zu kämpfen hat, die sich einem ständigen Entwicklungsprozeß stellt, um ihr inhaltliches Angebot und ihre Organisationsstruktur mit den veränderten Ansprüchen ihrer AbsolventInnen und der Außenwelt in Einklang zu bringen und um neue Personengruppen auch im Sinne der Ausschöpfung von Begabungsreserven gewinnen zu können. Abschließend erfolgt eine kurze Darstellung der über weite Strecken erfolgreichen LehrerInnenfortbildung an dieser Abendschule sowie einiger Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen.
Durch diesen Versuch der Verbindung theoretischer Überlegungen mit Praxiserfahrungen sollen aus einer kontroversiellen Position heraus Probleme am Abendgymnasium, also auf der Mikroebene, aufgegriffen und in einen größeren Zusammenhang gestellt von mehreren Seiten beleuchtet werden, um Diskussionsanstöße für die weitere Schulentwicklung zu liefern.
2. Postfordismus und Schule
Um den Veränderungsdruck in bezug auf das Lehren und Lernen in den Schulen zu verstehen, ist es notwendig, einen kurzen Blick auf die großen Trends und Umstrukturierungsprozesse der Wirtschaft zu werfen, die neue Fähigkeiten und Fertigkeiten von den (künftigen) ArbeitnehmerInnen verlangen. In diesen Sog veränderter und erhöhter Ansprüche an die Ausbildung ist nun das Bildungssystem geraten. Auslösendes Moment dafür ist der Eintritt ins postfordistische Zeitalter, also der Wechsel vom fordistischen Produktionsmodell zur flexiblen Spezialisierung.
Das bisher dominierende fordistische Modell war gekennzeichnet durch standardisierte Massenproduktion, Fließband, Akkord und Zerlegung der Arbeit in viele kleine Segmente, die vor allem von billigen Hilfs- und Anlernkräften bewältigt wurden. Nun werden arbeitsintensive Massenproduktionsbereiche in kostengünstigere Entwicklungs- und Schwellenländer verlagert, während die entwickelten Industrieländer zu einer flexiblen Fertigung übergehen, in der es zu einer Spezialisierung der Produktion auf Teilkomponenten einer Produktpalette kommt. Im Zuge dieser Spezialisierung sind daher große innerbetriebliche Umstrukturierungen, Rationalisierungsmaßnahmen und die Auslagerung von Dienstleistungen aus dem Produktionsbereich auf spezielle, maßgeschneiderte, unternehmensorientierte Dienstleister (Rechts-, Finanz-, Versicherungsberater, Marketing-, Logistikspezialisten etc.) im Gange. In der flexiblen Fertigung werden Spezialwissen und eine höhere Qualifikation als bisher von den Arbeitskräften nachgefragt, die ferner permanenten Weiterbildungswillen, Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit an den Tag legen sollen.
Um Wettbewerbsvorteile zu erzielen, muß das Wissen der Menschen, das immer mehr als eine der Hauptsäulen des unternehmerischen Erfolges gilt, besser erkannt und genutzt werden. Damit sich dieses „Humankapital“ auch tatsächlich im Unternehmenswert niederschlagen kann, gelten als die Anreizsysteme der Zukunft ein höheres Maß an erfolgsbezogenem und an leistungsorientiertem Lohn, also auch die Zunahme von Konkurrenz innerhalb des Betriebes, sowie die Identifikation mit dem Betrieb als „Mit-ArbeiterInnen“ an einer gemeinsamen Vision, die in ihrem Kern aber in Wirklichkeit vom Management und der strategischen Planung der obersten Unternehmensführung bestimmt wird. Um dem postfordistisch organisierten Unternehmen nützlich zu sein, soll die Arbeitskraft die Interessen des Betriebs als die eigenen internalisieren.
Profitfaktor Humankapital oder „Wirtschaft ist Gefühl“
Die Vereinheitlichung der Arbeitsleistungen im bisherigen fordistischen System ermöglichte es, die Arbeitsprozesse auf etwa vier bis fünf Jahre hinaus zu planen. Da inzwischen die Märkte gesättigt und dauernd instabil geworden sind, der Wettbewerb radikal und global, hat die Fähigkeit zur Planung derart abgenommen, daß der Arbeitsprozeß nach einem sehr hohen Maß an Flexibilität und Mobilität der Arbeitskraft verlangt. Das Kapital muß in einer unvorhersehbaren Umgebung, in der ein nur wenige Monate entferntes Hoch oder Tief des Marktes nicht vorausgesagt werden kann, sozusagen „auf Sicht navigieren“. In der postfordistischen Produktion, die äußerst flexibel sein muß, um sich dem verschärften Wettbewerb und den extremen Schwankungen des Marktes anzupassen, und die dementsprechend flexibilisierte Arbeitskräfte in deregulierten Arbeitsverhältnissen benötigt, wird deshalb euphemistisch-manipulativ mit positiv besetzten Begriffen wie Treue, Vertrauen, Arbeit als Gabe, intrinsische Motivation, Selbstaktivierung der Arbeitskraft, MitarbeiterInnenbeteiligung, selbstverantwortliches Arbeiten im Team usw. operiert. Marco Revelli beschreibt das im Entstehen begriffene Modell des modernen Unternehmens, das auch den öffentlichen Dienst und hier die Schule als „Betrieb“ zunehmend erfaßt, so:
„In der modernen Fabrik wird auf Regelmäßigkeit der Produktion verzichtet und die Notwendigkeit des Chaos akzeptiert und theoretisiert. Alle Spannungen, die diese chaotische Situation mit sich bringt, werden auf die Arbeitskräfte entladen, von denen ein Höchstmaß an Flexibilität, also Anpassung und Investition von Subjektivität verlangt wird. Hier wird die Subjektivität, die im fordistischen Modell noch als störendes und zu eliminierendes Element galt, im Rahmen des Postfordismus zu einer Ressource, zu einem Wettbewerbsvorteil. Die Arbeitsschritte werden aber auch elastisch, sie können nicht mehr als vertragliche Norm festgesetzt werden. Vom Arbeiter wird Hingabe verlangt und die Hingabe kann ja nicht Teil eines Arbeitsvertrages sein. Das Erbringen der Arbeitsleistung wird in gewisser Weise von der emotionalen Dimension erfaßt. Ob diese Emotionen dann Angstgefühle sind oder das Gefühl der Zugehörigkeit zur Unternehmensgemeinschaft, hängt vom jeweiligen Kontext ab. Für entscheidend halte ich, daß dabei das rationalisierende Element der Verhandelbarkeit verloren geht. Es bildet sich eine Logik der ´Gemeinschaft´ heraus […].“
Nicht zufällig werden in den Spitzenunternehmen neuerdings Gefühle groß geschrieben, um sie der neuen Unternehmenskultur dienstbar zu machen. Auf der Grundlage einer Befragung von 200 Top-Managern faßt Bankenchef Hans Haumer seine Erkenntnisse in seinem jüngst erschienenen Bestsellersachbuch dahingehend zusammen, daß Menschen nur mit positiven emotionalen Visionen zu großen Leistungen geführt werden können, daß ein emotionales Kapital den wesentlichen Erfolgsfaktor für ein Unternehmen darstellt: „Die emotionale Bereitschaft öffnet alle anderen Türen zum Humankapital. Seine Entfesselung ist die eigentliche Aufgabe der Führung. Erst wenn das Telefon nicht ´Bitte warten´ sagt, der Portier lächelt und die Leute sagen, ´wir machen das schon´, dann wissen wir, da ist shareholder-value, weil es human-value gibt.“
In der Tat ist in den letzten Jahren eine dramatische Abnahme geregelter und gesicherter Arbeitsverhältnisse festzustellen. Dabei steigt nicht nur die Anzahl der Lohnabhängigen mit befristeten Arbeitsverträgen enorm, sondern auch jene der formal Selbständigen, von denen ein großer Teil als FreiberuflerInnen, zuliefernde SubunternehmerInnen und InhaberInnen kleiner und kleinster Produktionseinheiten bzw. Dienstleistungsbetriebe in enormer Abhängigkeit der Großauftraggeber stehen und/oder grundlegende ArbeitnehmerInnenrechte verlieren. Dieser Fragmentierungsprozeß der Arbeitskräfte führt aber vor allem zu einer Verschiebung der Konflikte zwischen Reich und Arm, Privilegiert und Subaltern, Kapital und Arbeit hin zu Auseinandersetzungen zwischen Subjekten, die sozial eigentlich auf einem gleichen bzw. ähnlichen Niveau stehen. Das wären Konflikte zwischen lohnabhängigen Arbeitskräften und „neuen Selbständigen“, jungen und alten Arbeitskräften, Arbeitslosen und RentnerInnen, MigrantInnen und Arbeitslosen etc.
Lustvolle Selbstausbeutung in den Schulen
Die Bewußtmachung dieser hier aufgezeigten Entwicklungslinien bzw. Zukunftstrends läßt einerseits besser begreifen, warum gerade jetzt ein Paradigmenwechsel der (Aus)Bildungsinhalte und -methoden erfolgt, die nun auch im Schulbereich gerade von jenen Kräften zumindest verbal eingefordert werden, die sie bisher eher behindert bzw. sogar verhindert haben. Andererseits können so auch die Veränderungsprozesse im Bildungssystem besser eingeordnet und verstanden werden, in dem nun Autonomie, produktives Chaos und eine neue Unübersichtlichkeit Platz greifen. Analog zum postfordistischen Produktionsmodell wäre in den Schulen, zumindest tendenziell, bezüglich der Auswirkungen auf die LehrerInnen folgende Entwicklung im Bereich des Möglichen:
In den staatlichen Schulen ist mehr Leistung bei geringerer Ressourcenzuteilung angesagt. Den Lehrkräften wird dafür eine neue Arbeitsideologie angeboten, die Förderung der Eigeninitiative und der Selbstverantwortlichkeit unter Verflachung der Hierarchien verspricht. Die Möglichkeiten des Einzelnen zur Verbesserung der Schulqualität werden erhöht und somit auch die Arbeitsplatzzufriedenheit. Die Arbeit im Team fördert Effizienz, Motivation und sichert direkt und indirekt eine Kontrolle der Arbeitsleistungen durch die LehrerInnen selbst, wie es durch ein obrigkeitsstaatlich-autoritär kontrollierendes System nie derart wirksam durchgeführt werden könnte. Eindringliche Appelle richten sich an das Arbeitsethos der Lehrenden, deren Idealismus und Hingabe gepriesen wird. Die Arbeit in der Schule in Gleichsetzung mit einem Wirtschaftsbetrieb wird zu diesem Zweck emotionalisiert und erotisiert, sie usurpiert das Privatleben, während an Arbeitsbeziehungen Anforderungen gestellt werden, die ansonsten traditionelle, außerschulische Beziehungen erfüllen. Arbeit erhält trotz aller gegenteiliger Diskussionen eine noch identitätsstiftendere Funktion als bisher, Ausschluß aus der Berufswelt und Arbeitslosigkeit werden partiell noch unerträglicher. Die schulische Arbeitswelt wird zur Gefühlswelt, der „Betrieb“ zur Großfamilie. Oder sie wird zur Stätte des Horrors, der permanenten Angst um den Arbeitsplatz und des Verlustes der Identität.
Es ist offenkundig, daß tatsächlich die Vertragssicherheit in den Schulen bereits drastisch nachgelassen hat. Die Entsolidarisierung und Individualisierung nimmt in den Kollegien ungeachtet der neuen Philosophie der Teamarbeit beängstigende Formen an. Arbeitslose werden ausgegrenzt, JunglehrerInnen für den Abbau von Überstunden verantwortlich gemacht, ältere und pragmatisierte Lehrkräfte generell als faul denunziert; VertragslehrerInnen schielen auf die Pensionen der älteren Pragmatisierten, die sie zwar mitfinanzieren dürfen, selbst aber nicht mehr lukrieren können, UnterrichtspraktikantInnen streben einen Arbeitsplatz an, für den sie bereit sind, auf bisherige ArbeitnehmerInnenrechte zu verzichten; die II-L-VertragslehrerInnen wollen sich im Gegensatz dazu nicht aus ihrem Job verdrängen lassen, dafür wird aber nur für sie als einziger LehrerInnengruppe in Tirol neben den UnterrichtspraktikantInnen eine umfangreiche Beurteilung eingeführt, während alle anderen Lehrkräfte weiterhin dem Senioritätsprinzip unterstehen. Diese verschärfte Entsolidarisierung entspricht auch durchaus der für den Postfordismus typischen Logik der Ausdehnung der Konkurrenz auf allen Ebenen – zwischen den Unternehmen, zwischen den Schulen und innerhalb der Organisationen.
Erste Erfahrungen mit Schulentwicklung an Tiroler Gymnasien ebenso wie am Innsbrucker Abendgymnasium haben diesbezüglich ambivalente Auswirkungen aufgezeigt. Kooperation und Teamarbeit nahmen zu, ebenso aber auch Klagen gerade der besonders engagierten Lehrkräfte wegen Überbelastung, zusätzlichen Konflikten und Konkurrenz. Ein besonders großes Problem besteht in der Planungsarbeit und Etablierung neuer Organisations- und Steuerungsfunktionen an den in dieser Hinsicht völlig unvorbereiteten Schulen, die bis jetzt weitgehend staatliche Regelungen von oben gewöhnt waren und sich nun innerhalb kürzester Zeit in für sie unüblicher Teamarbeit zu Entscheidungsfindungen größten Ausmaßes parallel zu ihrer pädagogischen Innovationsarbeit zusammenzuraufen haben. Dies deckt sich mit dem Befund Pelinkas, daß bestimmte Interessensgegensätze und daraus resultierende Konflikte, die nicht von zentralen Instanzen ausdiskutiert und gelöst werden, unvermeidlich wieder auf der autonomen, einzelschulischen Ebene auftauchen und dort mikro-politisch ausgehandelt werden müssen. Nach vorliegenden internationalen Erfahrungen setzt Schulautonomie pädagogische Kreativität und LehrerInnenengagement frei, ohne daß jedoch spektakuläre Innovationsschübe sichtbar werden. Es dauert mehrere Jahre bis eine veritable Kultur der Problemlösung und Konfliktaustragung entwickelt werden kann.
Die Gefahr von Ausgrenzung in den Lehrkörpern zeichnet sich dort ab, wo im Zuge der Schulentwicklung gegen den Korpsgeist einer selbstverordneten (?) „corporate identity“, der sich alle verpflichtet fühlen sollten, bzw. gegen ein Arbeitsethos verstoßen wird, das sich informell herausgebildet hat. Dies zeigt sich gerade bei hart arbeitenden KollegInnen, denen es etwa im Rahmen eines Schulversuches verständlicherweise um den Erhalt der eigenen Arbeitskraft und die Realisierung persönlicher Zielvorstellungen bzw. beruflicher Karriereambitionen geht. „Wer selbst effizient sein will, verlangt das auch von den anderen, die ihm die Bedingungen für seine bzw. ihre Effizienz bereit stellen sollen.“ Durchaus auch auf die Schule umlegbar, ist die folgende auf den Produktionsprozeß bezogene Analyse Revellis:
„Jede Arbeitergruppe wird Klient und Auftraggeber der anderen, und es entwickelt sich ein Konflikt auf dieser Grundlage. Der gleiche Konflikt wiederholt sich unter den Arbeitern einer Gruppe, d.h. die Samurai der Produktion, die im Namen des eigenen Unternehmens mobilisiert werden, damit dieses die Oberhand über ein anderes gewinnt, schließen den Arbeiter, der sich nicht mit den Unternehmenszielen identifiziert und daher nicht an diesem Arbeitskrieg teilnimmt, aus ihrer Mitte aus. Der Mechanismus, der dort greift, besteht aus Ächtung und Konflikt.“
Postfordistische Produktion erfordert die Etablierung einer neuen Lernkultur
Aus dem bisher Dargelegten wird offensichtlich, daß sich Bildungsinhalte und Lehrmethoden entsprechend der momentanen gesellschaftlich-ökonomischen Transformation verändern. Die neue Aufmerksamkeit für Bildungsfragen geht von dem Vorwurf aus, daß das Bildungssystem trotz hoher finanzieller Aufwendungen nur unzureichend imstande sei, den neuen Erfordernissen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels Rechnung zu tragen. So wäre die Schule noch allzusehr auf die Vermittlung von Faktenwissen fixiert, ungeachtet des Umstandes, daß die Aneignung von solidem Fachwissen weiterhin unentbehrlich ist. Da das reine Sachwissen immer schneller veraltet und unaktuell wird, ist permanentes Lernen gefragt und die Vermittlung der dafür nötigen Kompetenzen. An die Schule wird daher die Forderung gestellt, die AbgängerInnen mit mehr Flexibilität, Kommunikationsfähigkeit, Erfahrungen mit Teamarbeit und der Befähigung zu einem adäquaten sozialen Umgang auszustatten. Der Weg zum Wissen soll gleichberechtigt neben das Wissen selbst treten. Um dieses angestrebte Ziel zu erreichen, ist die Etablierung einer neuen Lernkultur zu fördern (fächerübergreifender Unterricht, Arbeiten im Team, Epochen- und Projektunterricht, soziales Lernen, bilingualer Unterricht, offenes Lernen u.v.m.).
In weiten Bereichen überlappen sich die aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus entwickelten Zielvorstellungen mit jenen mehr auf Chancengleichheit und emanzipatorischem Gedankengut gegründeten Forderungen verschiedenster reformbewegter Basis- und Bildungsinitiativen, die im Laufe der 80er-Jahre entstanden und an die Öffentlichkeit getreten sind. Auf der einen Seite laufen sie nun Gefahr, daß ihre Ideen und Vorstellungen einer kindgerechteren Schule für eine Ökonomisierung von Bildung und Schule instrumentalisiert werden, andererseits eröffnet sich auch die Chance für eine Dynamik im starren Bildungssystem, die den SchülerInnen zum Vorteil gereicht, für Veränderungen, die sowohl mit Blick auf den Arbeitsmarkt die Ausbildungsqualität erhöhen als auch dem einzelnen Individuum und seinen persönlichen Interessen dienen können.
3. Bildung und Weiterbildung zwischen Ökonomisierung, sozio-kultureller Integrationsfunktion und offenem Lernprozeß
Mit dem gemeinsamen Markt und dem intensiven wirtschaftlichen Austausch zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) treten die unterschiedlichen Bildungssysteme in einen direkteren Wettbewerb und Vergleich, gleichzeitig erlangt die Funktionsfähigkeit der Bildungssysteme durch die Auswirkungen der Globalisierung noch größere Bedeutung. Für die Europäische Kommission hat Bildung nur mehr sehr peripher etwas mit schöngeistigen, humanistischen Werten, Emanzipation und autonomer Urteilskraft zu tun. Im Mittelpunkt ihrer Bildungsvorstellungen stehen Leistungswille und Lernfähigkeit. Mit Hilfe von (Fort)Bildung soll das Individuum seine Berufs- und Lebenschancen sichern, Bildung gilt als Investition in Fähigkeiten, Kenntnissen und Fertigkeiten, die die Konkurrenzfähigkeit Europas garantieren und die Arbeitslosigkeit zurückdrängen sollen. Es wird ein deutlicher Zusammenhang hergestellt zwischen dem Bildungswesen und der Beschäftigungssituation, weshalb auch die Bedeutung ständiger Fortbildung in den Vordergrund gerückt wird. Die Einengung von Bildung auf ihre Qualifizierungsfunktion ist zwar zu hinterfragen, doch ist zu begrüßen, daß auch auf der bildungspolitischen Ebene der in Europa vorherrschenden Arbeitslosigkeit ein großes Augenmerk geschenkt wird und die Mitverantwortlichkeit des Bildungssystems für die Arbeitsmarktchancen hervortritt. Es ist wesentlich, daß das Bewußtsein an allen Schulen, Universitäten und unter den Lehrenden steigt, daß die bestmögliche Befähigung zu einem Eintritt in die Arbeitswelt Teil des Bildungsauftrages ist. Die Bildungsinstitutionen leisten einen wichtigen Beitrag zur Lösung der Beschäftigungsprobleme und sind geradezu verpflichtet, alle Anstrengungen zu unternehmen, um dieser Verpflichtung auch tatsächlich gerecht zu werden. Allerdings ist ebenso zu betonen, daß sie nur innerhalb bestimmter Grenzen und Möglichkeiten zu einer Lösung der Massenarbeitslosigkeit beitragen können, die ohne entsprechende Maßnahmen auf anderen Politikfeldern nicht zu bewältigen ist.
Zum zweiten geht es jedoch darum, die zurückgedrängten pädagogischen Bildungsaspekte zu betonen und zu stärken, um klar zu machen, daß Bildung nicht nur darauf abzielen kann, die Menschen für eine sich um Profite und rare Arbeitsplätze streitende Konkurrenzgesellschaft fit zu machen, in der sich vermehrt PädagogInnen besorgt über „Kuschelecken“ in Schulen echauffieren, die die „gesunde Autorität“, das „harte, reale Leben“ und den Leistungsgedanken untergraben würden.
Wieder in den Vordergrund zu rücken wäre eine Bildung, die Maßstäbe setzt, mit denen man sich orientieren, zurechtfinden kann, gemeint ist Integration statt Selektion, ein Angebot zur Auseinandersetzung im Bereich Individuum und Gesellschaft, eine Bildung, die mithilft, daß das Individuum seinen Platz finden kann und zu einer gewaltfreien Konfliktlösung imstande ist. Hierbei geht es weiters um die Pflege einer Gesprächs- und Diskussionskultur als Gegengewicht zur herrschenden Medienlandschaft, zu den neuen Technologien und die auf Effizienz ausgerichteten Informations- und Präsentationsformen; es geht um die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Handelns und zum Umgang mit Zeit als Hilfe für die eigene Lebensgestaltung. Darüber hinaus ist die Förderung von mehr Achtsamkeit für sich und andere gemeint, wobei dieser erweiterte Bildungsbegriff nicht nur die Lernorientierung, sondern auch die Gefühlswelt der Lernenden miteinbezieht. Für eine tatsächliche Verankerung dieser pädagogischen Ansprüche im bildungspolitischen Diskurs mit entsprechenden Chancen auf Realisierung bedarf es noch großer Anstrengungen. „In der solidarischen Anstrengung und in der dabei vor sich gehenden Kommunikation liegt die Chance von Bildung“ und die Chance für den Aufbau eines ganzheitlichen Systems „lebensbegleitenden Lernens“ statt eindimensionalen lebenslangen Lernens für den Betrieb.
Das Weißbuch „Lehren und Lernen“ der Europäischen Kommission
Die Europäische Kommission bündelt in ihrem Weißbuch „Lehren und Lernen“ Vorschläge hinsichtlich einer europäischen Strategie der Berufsbildungspolitik unter Einschluß der Forderung einer damit untrennbar verbundenen Qualitätsanhebung der Erstausbildung. Sie stellt fünf Aktionsleitlinien auf, für deren Umsetzung jeder Mitgliedsstaat unter Ausarbeitung nationaler Maßnahmenpakete selbst Sorge tragen soll. Für Österreich würden die von der Kommission anvisierten Ziele auch bedeuten, tiefe ideologisch-politische Gegensätze durch die Berücksichtigung jeweils beider Pole zu überbrücken versuchen. Hierbei ginge es um die Aufgabe der Dichotomie „Allgemeinbildung versus Berufsbildung; Unternehmen versus Schule; Leistung versus Gerechtigkeit; traditioneller Unterricht versus neue Medien.“
Einer der Hauptschwerpunkte der bildungspolitischen Vorstellungen des Weißbuches zielt auf eine Annäherung von Bildung und Ausbildung sowie Allgemeinbildung und Berufsbildung ab.
Die Antworten auf die Herausbildung der Informationsgesellschaft und die Globalisierung der Wirtschaft sind laut Weißbuch Allgemeinbildung und Eignung zur Beschäftigung. Deshalb sind Maßnahmen zu ergreifen, die die individuelle Bildungsbereitschaft stärken und den gesamten Bereich der Fortbildung erheblich erweitern, der den jeweilig Interessierten lebenslang zugänglich zu sein hat. Folglich erhält die von einer Sinnkrise geschüttelte Allgemeinbildung, die sich u.a. in der zunehmenden Infragestellung der Bedeutung der AHS und der von ihr vermittelten Qualifikationen samt Maturaabschluß widerspiegelt, eine Aufwertung. Ihr wird nämlich seitens der EU ein bedeutender Stellenwert zugemessen bei der Beantwortung der Frage, wie den negativen Auswirkungen der gesellschaftlichen Umwälzungen entgegengewirkt werden kann:
„Der Ausbau der Allgemeinbildung, d.h. der Fähigkeit, die Bedeutung der Dinge zu erfassen, zu verstehen und kreativ zu sein, ist die Grundfunktion der Schule und gleichzeitig der wichtigste Faktor zur Anpassung an Wirtschaft und Beschäftigung. Außerdem ist in zunehmendem Maße eine machtvolle Wiedererstehung der Allgemeinbildung in den Berufsbildungseinrichtungen, in den Umschulungsprogrammen für niedrig qualifizierte oder hochspezialisierte Arbeitnehmer festzustellen.“
Diesbezüglich ist festzuhalten, daß in den größeren Unternehmen bereits ein merkbares Abgehen von der Sichtweise der 80er-Jahre festzustellen ist, die eine möglichst direkt verwertbare und spezifische Berufsbildung beinhaltete. Es stellte sich nämlich heraus, daß diese Ausbildungsform häufig falsche bzw. sehr einseitige Qualifikationen in einer sich rasch verändernden Arbeitswelt bei hohem finanziellem Aufwand hervorbringt. Statt dessen scheint sich der Schwerpunkt nun hin zu Arbeitskräften mit einer möglichst breiten fachlichen Allgemeinbildung unter Einschluß von Schlüsselkompetenzen zu entwickeln, die sich laut Europäischer Kommission in allen Ausbildungsgängen immer mehr durchsetzen. Fundierte Allgemeinbildung und beziehungsorientierte Fähigkeiten sollen eine möglichst breite Einsetzbarkeit in der Arbeitswelt ermöglichen, während die Unternehmen verstärkt die direkte berufliche Ausbildung bzw. Mitverantwortung für die „Humanressourcen“ etwa nach japanischem Vorbild übernehmen.
Es liegt also auf der Hand, daß sich die AHS verstärkt hinsichtlich einer Öffnung zur Vermittlung von mehr Sozial-, Personal- und Methodenkompetenz öffnen muß, wenn sie nicht in eine Legitimationskrise geraten möchte. Dies gilt umso mehr für das Innsbrucker Abendgymnasium, das den Entwicklungen des Arbeits- und Bildungsmarktes weit stärker ausgesetzt ist als die Tagesgymnasien und daher gezwungen ist, nachfrageorientierter zu agieren. Generell leiden alle AHS an Attraktivitätseinbußen eben auch wegen ihres Mangels an Berufsbezogenheit.
In vielen europäischen Ländern ist eine Entwicklung festzustellen, die die allgemeinbildenden Mittelschulen mit einer Lehre kombiniert oder ihre Bildungsangebote durch verschiedene Arten von Kurssystemen und berufsrelevanten Wahlfächern ergänzt, um eine Annäherung von allgemeinbildenden und berufsbildenden Bildungsgängen zu garantieren. In den Oberstufen mehrerer Länder können Jugendliche Pflichtfächer in einer allgemeinbildenden oder schwierigeren Schwerpunktvariante absolvieren und um Wahlfächer erweitern. Damit werden unterschiedliche Abschlüsse ermöglicht, die auch zur seitens der EU eingeforderten Vermeidung der Ghettoisierung leistungsschwächerer SchülerInnen beitragen sollen. Allerdings würde dieser Weg zu einem Funktionswandel der schulischen Langformen führen, eine Diskussion, die gerade in Österreich besonders stark ideologisch und emotional belastet ist. Die Konsequenz wäre die vermehrte Zulassung von nicht unbedingt an Hochschulstudien interessierten SchülerInnen und damit der Ausbau der AHS bzw. der Sekundarstufe II generell zu Vollzeitschulen, in denen von einer frühen Selektion unter Ausschöpfung des Begabungspotentials abgegangen wird. Unbeschadet davon wird jedenfalls in der Schulpraxis mehrerer europäischer Mitgliedsländer und in den bildungspolitischen Vorstellungen der Europäischen Kommission die Annäherung von Allgemein- und Berufsbildung durch Kombinationsmöglichkeiten von Pflicht- und Wahlfächern, die die Entwicklung individueller Qualifikationsprofile realisierbar machen, bereits durchgeführt.
Im Mittelpunkt der Aktionslinien der Europäischen Kommission stehen weiters technokratische Forderungen wie die Aneignung neuer Kenntnisse und die Anhebung des allgemeinen Wissensniveaus, vor allem der Umgang mit den neuen Kommunikationstechnologien und der Gebrauch von drei Gemeinschaftssprachen.
Neben der auch in diesen Zielvorstellungen erkennbaren Anpassung an den gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel, soll Bildung aber auch zur sozialen und kulturellen Integration beitragen. Diese Leitlinie gilt es in Zukunft gleichwertig neben dem Qualifizierungsaspekt zu etablieren. Im Weißbuch „Lehren und Lernen“ heißt es: „Die allgemeine und berufliche Bildung haben die wesentliche Funktion, die soziale Integration und die persönliche Entwicklung der Europäer durch die Vermittlung von gemeinsamen Werten, die Weitergabe des kulturellen Erbes und den Erwerb der Fähigkeit zu selbständigem Denken zu gewährleisten.“ Die grundlegende Aufgabe der Allgemeinbildung wird darin gesehen, das ganze Potential und die vollständige Persönlichkeit zu entwickeln und nicht nur ein Werkzeug für die Wirtschaft zu werden. Deshalb und nicht zuletzt zur Festigung der Demokratie, die Menschen braucht, die ihre Entscheidungen nicht nur aus dem Bauch heraus, sondern auch mit begründetem Urteilsvermögen und Kritikfähigkeit zu fällen imstande sind, ist auch die wissenschaftliche, literarische, philosophische, historische und geographische Bildung nicht zu vernachlässigen.
Eine stärkere Zuwendung zu diesem ganzheitlichen Bildungsbegriff, der Lernen als einen die ganze Person betreffenden Prozess ansieht und die kulturelle Dimension betont, bei der es auch um die schwierige Aufgabe der Förderung eines kollektiven Zusammengehörigkeitsgefühles in einem gemeinsamen Europa geht, ist erst in Ansätzen vorhanden. Hierbei stellt die Europäische Kommission jedoch dezidiert fest, daß die wichtigste Funktion der Schule darin besteht, Welt zu verstehen, ihren Sinn wahrzunehmen und ihre Funktionen zu begreifen, um den eigenen Weg finden zu können. Auf Europa bezogen bedeutet dies, daß die Bildungseinrichtungen den Jugendlichen und Erwachsenen eine Allgemeinbildung zu vermitteln haben, mit der sie komplexe Zusammenhänge und ihre historische Dimension zu erfassen vermögen, wodurch Fundamente für ein europäisches Bewußtsein und eine nicht nur auf dem Papier existierende Unionsbürgerschaft geschaffen werden können.
Bildungspolitik kontra soziale Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit
Der auch in der soeben erwähnten, auf Integration abzielenden Aktionsleitlinie inkludierte Konnex zwischen Beschäftigung und Bildung will für eine sozial sensiblere Bildungspolitik sorgen und ist zu umreißen mit den Schlagworten Verringerung der Ausgrenzung und Bildungsbenachteiligung.
Das Weißbuch „Lehren und Lernen“ weist sehr deutlich auf die Existenz und Zunahme des Phänomens der sozialen Ausgrenzung in der Bildungs- und Arbeitswelt hin und fordert die Wiedereingliederung der Ausgegrenzten sowie die Verringerung des Entstehens von Risikogruppen und Benachteiligten. Damit erfolgt die Wiederbeschäftigung mit dem bereits als antiquiert gehandelten Thema der Chancengleichheit sowie der Tatsache der Nichtteilhabe vieler Menschen am sozialen Leben und lebensbegleitenden Lernen. Folglich gilt Bildungspolitik neben der Handels-, Industrie-, Sozialpolitik usw. als Bereich, der Voraussetzungen für die Herausbildung eines neuen arbeitsplatzschaffenden Wachstumsmodells schafft. Die Erweiterung der Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten sei aus wirtschaftlicher Sicht für die europäischen Länder nötig, „um ihre Stellung zu behaupten, um weiterhin eine feste Größe in der Welt darzustellen“, andererseits wird die demokratiegefährdende Dimension des Ausschlusses aus dem Bildungsprozeß und dem Erwerbsleben erkannt: „Eine europäische Gesellschaft, die ihre Kinder zu Staatsbürgern erziehen will, ohne daß die Ausbildung in eine Beschäftigungsperspektive einmündet, wäre in ihren Grundsätzen bedroht.“ Aus diesem Grund sollte für jede/n der Zugang zu Fortbildung und Verbesserung der Eignung für Beschäftigung und Erwerbstätigkeit gesichert sein. Am Europäischen Forum Alpach 1996 machte Heinrich Ursprung, ehemaliger Präsident der Technischen Hochschule Zürich und des Schweizer Schulrates, auf die Ungleichverteilung der ideellen und materiellen Ressourcen im Zeitalter technologischer Fortschrittseuphorie aufmerksam:
„Im Mai dieses Jahres allein war die Informationsflut, die im World Wide Web zirkulierte, ungefähr 2300mal so groß wie der Inhalt der „Encyclopaedia Britannica“. Aber, meine Damen und Herren, das ist ebenso eine Tatsache wie die, dass trotz des globalen Informationsnetzes ungefähr eine Milliarde Analphabeten auf dieser Erde leben. Es gehört ebenfalls zur Realität, dass der tägliche Geldfluss etwa 3000 Milliarden Dollar beträgt und täglich 34.000 Kinder an Hunger sterben. Das sind Realitäten, die es zu hinterfragen gilt.“
Die Europäische Kommission appelliert daher in ihrem Weißbuch „Lehren und Lernen“, die bestehende Spaltung der Gesellschaft in Wissende und Unwissende zu verringern und die gesamten „Humanressourcen“ entwickeln und fördern zu helfen. Der Abbau des Abstandes zwischen den beiden Gruppen sollte in den Bereichen Verstehensvermögen und Kreativität, Urteils- und Entscheidungsvermögen sowie in der Fähigkeit, die Bedeutung der Dinge zu erfassen, bestehen. Kritisiert wird besonders, daß der traditionelle Weg zum Diplom über die vorhandenen Selektionsmechanismen zu oft Ausschließung bedeutet, sodaß Talente eliminiert werden, die zwar vom Durchschnittsprofil abweichen, aber durchaus innovatorische Fähigkeiten besitzen: „So erzeugt [die Gesellschaft] häufig eine Elite, die für das geistige Potential der verfügbaren Humanressourcen wenig repräsentativ ist.“ Während einerseits in der Erstausbildung eine zu frühzeitige Selektion und Ghettoisierung durch entsprechende Umstrukturierungen in den Schulen zu vermeiden wäre, sollte jede/r eine zweite Chance bekommen und besondere Bildungseinrichtungen der „zweiten Chance“ eingerichtet bzw. gefördert werden. Jede/r müßte seinen Bildungsprozeß dort wieder aufnehmen können, wo er/sie ihn abgebrochen hat, was nicht nur eine größere Durchlässigkeit der Bildungseinrichtungen, sondern auch das Beschreiten neuer Wege der Anerkennung von Kompetenzen verlangt, die unabhängig von den formalen Nachweisen der Erstausbildung entwickelt werden müssen. In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß damit gerade die österreichischen Abendschulen einen deutlichen Legitimationszuwachs erhalten, umso mehr noch, wenn sie sich weiterhin als so innovativ wie in der Vergangenheit erweisen und sich neuen Herausforderungen zu stellen bereit sind.
Die Europäische Kommission empfiehlt eine gezielte Förderung im Sinne „positiver Diskriminierung“ für bildungsmäßig ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen unter Einschluß eines massiven Ressourceneinsatzes. Gemeint ist damit die Verwendung der neuesten Informationstechnologien in kleinen Klassen und die Heranziehung gerade der qualifiziertesten Lehrkräfte, denen in dieser Tätigkeit eine bessere Bezahlung zukommt als in anderen Bereichen des Schulsektors. Dies würde zu einem Teil ein Umdenken in der bisherigen Verteilungspraxis der Bildungsausgaben in Österreich nach sich ziehen müssen, da hierzulande die Pro-Kopf-Ausgaben mit dem Qualifikationsniveau des besuchten Bildungsgangs steil ansteigen. Ein verschärfter Wettbewerb um Ressourcenzuteilung zwischen den Bildungseinrichtungen ist für die Zukunft auf alle Fälle zu erwarten.
Trends in der Erwachsenen- und Weiterbildung
Aus welchen Gruppen setzen sich nun diese Benachteiligten, von denen die Rede war, zusammen? Genannt werden vorwiegend Niedrigqualifizierte, v.a. ohne Pflichtschulabschluß, Frauen sowie AusländerInnen (Jugendliche und Erwachsene) mit all ihren spezifischen Problemen. Da Mädchen nach wie vor weniger gut ausgebildet sind als Burschen und sich dies angesichts der zunehmenden Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit von Frauen als nachteilig für deren einkommensmäßige Situation und ihr berufliches Fortkommen erweist, ist die Förderung weiblicher Bildungsanstrengungen besonders dringlich. Erschwerend tritt hierbei hinzu, daß die Veränderung der traditionellen Familienstruktur gerade durch die ökonomischen Entwicklungen das Problem der Kinder- und Jugendbetreuung immer stärker aufwirft. Man denke nur an die künftig noch häufigeren Arbeitsplatz- bzw. Wohnortwechsel und die Zunahme ungeregelter Arbeitszeiten. Gerade Erwachsenenbildungseinrichtungen werden sich dieser Problematik ihrer TeilnehmerInnen verstärkt stellen müssen. Ob dies nun erwünscht ist oder nicht, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität wird die Bildungsinstitutionen generell in multifunktionale Orte der Bildung, Kultivierung, Sozialisierung und auch der Freizeitgestaltung verwandeln. Es zeichnen sich also deutlich Trends ab, die in der Erwachsenenbildung aber auch für das Innsbrucker Abendgymnasium an der Schnittstelle zwischen Schule und Erwachsenenbildung von Relevanz sind:
* Erhöhung des Stellenwertes der Erwachsenenbildung durch die massive Zunahme von Ausgrenzungserscheinungen und die demographische Entwicklung (älter werdende Bevölkerung)
* Verstärkte Kooperationen mit wissenschaftlichen Institutionen
* Vernetzung mit anderen Einrichtungen des Bildungswesens zur besseren Nutzung der vorhandenen materiellen und personellen Ressourcen; Herstellung von Synergieeffekten zur Bewältigung der zunehmend vielfältigen Aufgabenbereiche, die von einer Institution alleine nicht mehr zu bewältigen sind
* Wissensgesellschaft: Entwicklung von Lernfähigkeit und Lernbereitschaft bis hin zu Selbstverantwortung und Selbstorganisation, Umgang mit neuen Technologien und effizienter, kritischer Informationsverarbeitung
* Bedeutungszunahme des außerhalb von Diplomen ausgewiesenen Wissens und Verhaltensweisen durch Lebenserfahrung und Berufstätigkeit
* Äußerst inhomogene TeilnehmerInnen, deren gemeinsames Merkmal am ehesten Unterbrechen und Neubeginn ist. Neuformulierung von Lebensplänen, von denen angenommen wird, sie mit Hilfe von Weiterbildung realisieren zu können
* Soziales Rekrutierungsfeld werden immer mehr AusländerInnen, Arbeitslose, Alleinerziehende, berufliche Wiedereinsteigerinnen, Orientierungssuchende
* Wettbewerb um Studierende; Marktorientierung von Bildungsangeboten, die sich in einer verschärften Konkurrenzsituation durchsetzen müssen (was sollen, können, wollen wir anbieten, Werbung, professionelles Handeln, Preiskalkulation etc.)
* Qualitätssicherung und TeilnehmerInnenorientierung: d.h. das Angebot muß maßgeschneidert sein, Aspekte kurzfristig erstellter Lernkonzepte sowie Aspekte des Nutzens, der Anwendung und Verwertbarkeit beinhalten; Unterstützung selbstorganisierten Lernens durch Zurverfügungstellung entsprechender Lernarrangements, Lernstrategien und Materialien
* “Kurzzeitpädagogik“: Interesse der TeilnehmerInnen an Kurzzeitangeboten mit Hoffnung auf unmittelbare Effekte, große Probleme für langfristige Curricula
* Legitimation der Finanzen unter den Rahmenbedingungen von Sparbudgets, um zu den entsprechenden Mitteln zu kommen. Daraus ergibt sich auch die Etablierung verschiedenster Formen von Evaluation
* Verschiebung von Kostenanteilen hin zu den Weiterbildungsinteressierten
* Zunehmende Priorität betriebswirtschaftlichen Denkens gegenüber pädagogischen Anliegen und dementsprechenden Auswirkungen auf der Angebotsseite (Anbieten von Kursen, die Geld einbringen bzw. TeilnehmerInnen anlocken)
* Im Widerspruch dazu ist politisch “Soziale Zielgenauigkeit“ erwünscht: Ausarbeitung eines inhaltlichen, organisatorischen und finanziellen Maßnahmenkatalogs zur Förderung der bildungsmäßig Benachteiligten statt staatlicher Finanzierung der besser Verdienenden und bereits gut Gebildeten.
Nicht zuletzt aufgrund der Einsparung öffentlicher Ausgaben schlägt Lenz den Umstieg von undifferenzierter Förderung hin zur Definierung spezieller Aufgabenbereiche vor. Für ihn kristallisieren sich in der Erwachsenenbildung drei Schwerpunkte heraus:
a) Kompensatorische Grundbildung: Alphabetisierung, Deutsch als Fremdsprache, Zweiter Bildungsweg
b) Lebensgestaltende Bildung: Werte, Beziehungen/Interaktion, plurale Lebensformen, Frauenbildung mit v.a. berufsbezogener Thematik, Geschlechterverhältnis, Familie und Partnerschaft, gesellschaftliche Partizipation
c) Gesellschaftliche Schlüsselprobleme: Lernen, das in Auseinandersetzung mit Wissenschaft und Expertentum reflektiert und nach Lösungsmöglichkeiten sucht.
Aus dem bisher Gesagten geht deutlich hervor, daß das Innsbrucker Abendgymnasium vor einer schwierigen Phase der Umstrukturierung steht. Es gilt die Frage zu beantworten, in welche Richtung sich die Schule entwickeln möchte, welches Profil sie sich verpassen wird. Welche Studierende will die Schule in Zukunft ansprechen, soll die Angebotspalette sozusagen modernisiert und diversifiziert sowie das bisherige System aufgebrochen werden? Ist ein Weg einzuschlagen, der die Anstalt in eine Kombination aus Gymnasialtypen und, zunächst klein dimensioniert, eine Art modernes Weiterbildungsinstitut transformiert? Sollen die vorhandenen Ressourcen im Kollegium besser genutzt werden, um sich neben den traditionellen TeilnehmerInnen neuen Schichten zu öffnen, vorzugsweise jenen von der Europäischen Kommission angesprochenen benachteiligten Gruppen?
Insgesamt erscheint es notwendig, näher zu definieren, welchen Platz das Abendgymnasium im Bereich von gymnasialer Ausbildung, Erwachsenenbildung und Weiterbildung einnehmen kann und einnehmen will. Kann die Einführung eines Kurssystems dazu beitragen, die Bildungsgänge an der Schule zu verkürzen und den Studierenden, die nicht an der Absolvierung eines Gesamtstudiums interessiert sind bzw. die in einem bestimmten Semester den Schulbesuch abbrechen, verschiedene Arten von Abschlüssen und Kompetenznachweisen vermitteln, die ihnen für ihren persönlichen und beruflichen Fortgang zum Vorteil gereichen? Würde folglich die „Qualitätswahrheit“ steigen und das Niveau der Matura gehoben werden, wenn die Hinführung zur Universitätsreife nicht der einzige formale Qualifikationsnachweis wäre, den die Schule anzubieten hätte?
Unabhängig vom Grad der Veränderung wird es wesentlich sein, die Bedürfnisse der Lernenden besser zu erschließen und zu berücksichtigen bzw. gegebenenfalls dafür Programme oder Module zu erstellen. In jedem Fall, auch bei Beibehaltung der bestehenden Organisationsstruktur, ist die Frage noch intensiver als bisher zu stellen, wie die Lehrenden den Erwachsenen nicht mehr „nur“ Wissen vermitteln, sondern sie dazu befähigen, ihr eigenes Lernen zu organisieren.
Das Weißbuch „Lehren und Lernen“ betont die Notwendigkeit der Vervielfachung der Bildungsangebote, den Aufbau von regionalen Bildungszentren oder Netzwerken zwischen bestehenden Institutionen und sieht die Herstellung von Querverbindungen zwischen den Bildungswegen, also die Kooperation zwischen Schulen, Erwachsenenbildungsorganisationen, Betrieben etc. ebenso vor, wie die Anerkennung des Erwerbs von Wissen und Kompetenzen, die auf informellerem Weg erreicht wurden. Dies könnte als Handlungsbedarf für das Abendgymnasium angesehen werden: etwa Gesprächsanbahnung mit den regionalen Erwachsenenbildungsinstitutionen, Einrichtung eines auch von der Europäischen Kommission angeregten „persönlichen Kompetenzausweises“ für Studierende, in dem die Fertigkeiten und Kenntnisse der/des Studierenden aufgeführt sind, z.B. in Form der Kurse, Module, Einzelfächer, Projekte, Zusatzqualifikationen etc., die er/sie (teil)absolviert hat.
Positiv in dieser Richtung wären herzustellende Synergieeffekte durch eine bessere Nutzung von Schulraum und Lehrpersonal, was auch die Möglichkeit einer höheren LehrerInnenbeschäftigung nach sich zöge, gerade in Zeiten geburtenschwacher Jahrgänge und angesichts der Tatsache, daß die österreichische Erwachsenenbildung hinsichtlich ihres Personals relativ wenig professionalisiert ist. Andererseits sind die Bereitschaft und Flexibilität der angesprochenen Institutionen, Behörden und des Gesetzgebers noch ebenso gering wie ein dementsprechend innovatives Engagement seitens der Politik, welche die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen hätte. Fernab europäischer Bildungskonzepte und programmatischer Reden und Appelle „von oben“ sind die zu überwindenden Widerstände überaus groß. In jedem Fall ist unter all diesen Gesichtspunkten LehrerInnenfortbildung von höchster Dringlichkeit.
Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, Stichwort Maastricht-Kriterien, sowie die demographischen Entwicklungen, die eine weitere deutliche Abnahme junger Menschen und die Zunahme der Älteren bewirken, lassen eine Verschiebung öffentlicher Ausgaben hin zum Pensions- und Gesundheitssystem erwarten. Wie oben skizziert und darin sind sich ExpertInnen einig, wird der bis jetzt vorwiegend privat finanzierte und daher besonders vom oberen Einkommensdrittel frequentierte Weiterbildungsbereich hinsichtlich seiner Bedeutung gegenüber dem Erstausbildungsbereich zunehmen. Während also die gut Situierten ihre Requalifizierung, oft noch vom Dienstgeber bezahlt, vorantreiben können, gilt eine Unterversorgung breiter Bevölkerungsschichten an öffentlich (teil)finanzierten Weiterbildungsangeboten. Und dies gerade in Zeiten, da die Halbwertszeit des Wissens nicht nur für die gehobenen Berufe ständig sinkt. Eine Untersuchung des Instituts für Bildungsforschung der Wirtschaft bei Mittelbetrieben mit mehr als 100 ArbeitnehmerInnen ergab ebenfalls, daß die Weiterbildungsbeteiligung und der Zugang zur Weiterbildung mit der Ausbildungshöhe und der beruflichen Position verknüpft sind, wobei die Beteiligungsquote von Frauen generell um rund 10% niedriger lag.
Da aufgrund der europaweiten Budgetkonsolidierungspolitik mit zusätzlichen Mitteln nicht zu rechnen ist, scheint, sofern es die Bildungspolitik mit dem Schlagwort „lebenslanges Lernen“ ernst meint, über kurz oder lang eine Umverteilung öffentlicher Mittel von der Erstausbildung in die Weiterbildung wahrscheinlich, was wiederum für die erstausbildenden Schulen einen Zwang zur Effizienzsteigerung der vorhandenen Ressourcen und Ergänzung der Einnahmen aus privater Quelle bedeutet. Die Verteilungskonflikte und der Kampf um Marktsegmente werden auch zwischen dem Innsbrucker Abendgymnasium und den Institutionen der Erwachsenenbildung zunehmen, v.a. wenn das Konkurrenz- dem Kooperationsprinzip vorgezogen wird.
Allgemein besteht die nicht zu unterschätzende Gefahr, daß ungeachtet der Berücksichtigung der Bildungsnachfrage und der Erstellung einer seriösen Profilbildung an der Schule sozusagen aufs falsche Pferd gesetzt wird, weil das Lobbying nicht ausreicht, um mit den notwendigen Mitteln ausgestattet zu werden. So gesehen befindet sich das Innsbrucker Abendgymnasium in einem klassischen Dilemma: eine weitreichende, kühne und gut durchgeführte Schulentwicklung mit hohem Arbeitsaufwand garantiert aufgrund der nicht zu beeinflussenden Faktoren, in die die Schule trotz aller (immer noch sehr schüchternen) Dezentralisierung eingezwängt ist, noch lange keine wirkliche Absicherung des Schulstandortes. Überdies besteht die nicht von der Hand zu weisende Gefahr, daß der Dienstgeber strukturelle Veränderungen im Gefolge der Erstellung eines Schulprofils zu Kürzungen bei der Ressourcenzuteilung nützt. Reformverweigerung und Beibehaltung des status quo führen jedoch unweigerlich zu einer Legitimationskrise der Schule in Zeiten großer Umbrüche und gestiegener Erwartungshaltungen der Gesellschaft an die Ausbildungsqualität und bergen auf längere Sicht die Gefahr des Studierendenschwundes, wobei dann innerhalb des Lehrkörpers die Leidtragenden die VertragslehrerInnen als erste Opfer erzwungener Rationalisierung wären.
Größere Veränderungen werden meist dort als notwendig erachtet, wo der Leidensdruck bereits sehr groß ist. Dieser fehlt am Abendgymnasium, das in den letzten Jahren dank seines guten Rufes und professionellen Werbekonzeptes kräftig expandierte. Doch das beste Marketing kann auf die Dauer nicht funktionieren, wenn es nicht ständig verbesserte Inhalte anbieten kann.
4. Das Innsbrucker Abendgymnasium als „lernende Organisation“
Das Innsbrucker Abendgymnasium verfolgt das Ziel, sowohl dem ökonomischen als auch dem persönlichkeitsbezogenen Bildungsaspekt gerecht zu werden. Neben dem Qualifikationsmoment, das zunehmend bestrebt ist, die Außenwelt und die Arbeitsmarktsituation ins Kalkül zu ziehen, stehen auch Subjekt, Partizipation, Mündigkeit, persönliches Wachstum und Eigeninteressen im Vordergrund der Lernprozesse. Die Vermittlung von Toleranz, geistiger Offenheit und sozialem Engagement sollen einen ebenso großen Stellenwert haben, wie die Gewährleistung einer chancengerechten Ausbildung. Um diese Ansprüche aber auch tatsächlich zu realisieren, bedarf es einer effizienten Organisationsstruktur und eines außergewöhnlich hoch motivierten und kompetenten Kollegiums. Allerdings sind die den Schulen vorgegebenen Rahmenbedingungen zur Verwirklichung dieser Ziele und Qualitätsverbesserungen äußerst schlecht. Die Reform „von oben“ als Voraussetzung für eine weitgehende Reform „von unten“ sowie eine echte, fruchtbringende Dezentralisierung, die nicht in erster Linie ein Einsparungspotential im Auge hat, bleiben vielfach halbherzig und drohen in vielen Bereichen zu einer medial groß inszenierten Ankündigungspolitik zu degenerieren.
Das Innsbrucker Abendgymnasium verfügt über eine ausgesprochen hohe „Aktivitätsorientierung“ mit einer ausgeprägten Außensensibilität, die sich in einer besonderen Studierendenorientierung niederschlägt. Das Umfeld der Schule und die sich abzeichnenden bildungspolititschen und sozio-ökonomischen Entwicklungen werden aufmerksam verfolgt und ein daraus abzuleitender Handlungsbedarf erhoben. Die Bereitschaft, sich mit externen BeraterInnen auseinanderzusetzen ist ebenso gegeben wie der Wille, sich neuen Anforderungen zu stellen. Die Schule gerät dadurch aber auch in einen nie enden wollenden Kreis stetig steigender Anforderungen und in einen nicht immer als angenehm empfundenen Handlungsdruck. Was Altricher/Soukup-Altrichter als typischen Befund für innovative Schulen erhoben haben, läßt sich auf das Innsbrucker Abendgymnasium übertragen. „Aktivitätsorientierung“ birgt die Gefahr der Selbstüberforderung und des „blinden Aktivismus“ sowie des Vorpreschens von AktivistInnengruppen in sich, was oft Widerstand beim Rest der Organisation nach sich zieht. Ein Problem, auf das beide BildungsforscherInnen hinweisen, ist auch am Abendgymnasium deutlich festzustellen, nämlich die Schwierigkeit, „Grenzziehungen“ vorzunehmen. Um solche „Grenzziehungen“ bewerkstelligen zu können, müßte eine Struktur vorhanden sein, „die das Schulganze repräsentiert und die angesichts der vielfältigen externen Anforderungen sowie der internen Ziele und Ressourcen eine praktikable Strategie entwickelt.“ An der Schule ist eindeutig zu bemerken, daß diese Entscheidung hinsichtlich der Setzung von „Grenzen der Innovation“ noch weitgehend ausgeklammert wurde, indem alle aktiven Personen und Gruppen arbeiten und ihre Ideen umsetzen dürfen, was zu Schwierigkeiten bei der Koordination der Innovationen führt.
Probleme der Schulentwicklung
Das Innsbrucker Abendgymnasium setzt sich mit seinem Selbstverständnis und seiner in die Praxis umgesetzten Auffassung von interner Aus- und Weiterbildung zukunftsorientiert auseinander. Dies kann aber dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie sich als Teilorganisation des Schulsystems und seiner Funktionsmechanismen von den weiter oben geschilderten Negativa nicht zu absentieren vermag, daß diese äußeren Rahmenbedingungen die Gestaltungsmöglichkeiten und Problembekämpfung vor Ort einengen, daß viele Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Zielvorstellungen und des Innovationswillens eben nicht nur hausgemacht sind und sich allein mit Hilfe von Effizienzsteigerungen in der Organisation und beim so genannten „Humankapital“ keineswegs lösen lassen. Ohne jetzt auf eine genaue Analyse der externen und internen Faktoren eingehen zu wollen, lassen sich einige der Hauptprobleme des Innsbrucker Abendgymnasiums auf dem Wege zur Schulentwicklung so beschreiben:
Noch sind erst Ansätze zu einer allgemeinen Planung vorhanden, die alle an der Schule laufenden Initiativen und Entwicklungen umfassen, die Vielfältigkeit der vorhandenen Potentiale und Projekte konnte noch nicht zu einem klaren Schulprofil zusammengeführt werden. Das Fortbildungsinteresse ist ungleich verteilt, was die Gefahr selbstverantworteter Abkoppelung von Entwicklungsprozessen und Kompetenzerwerb heraufbeschwört, aber auch in Zusammenhang mit indirektem, subjektiv empfundenem Druck durch die Fortbildungseiferer in ihren Siebenmeilenstiefeln steht. Andererseits sind die besonders Weiterbildungsengagierten frustriert, daß Veränderungsprozesse ihrer Meinung nach nicht schnell genug greifen, während ihr Engagement vom Schulsystem und vom so genannten „Unternehmen“ Schule weder materiell noch karrieremäßig honoriert werden. Auch ideell sehen sie sich „nur“ in Bezug auf positive Rückmeldungen durch die Studierenden, die von einer zunehmenden Professionalität ihrer Lehrenden profitieren, bedankt, dennoch bleiben diese Leistungen im großen und ganzen „unsichtbar“. Diese im österreichischen Schulsystem besonders ausgeprägte Verweigerung der Anerkennung von Leistung und Engagement wirkt demotivierend, führt zu verstärkter Konkurrenz, sehnsuchtsvoller Suche nach Anerkennung und zu einer menschlich verständlichen, jedoch für die Schulentwicklung kontraproduktiven Profilierungsnotwendigkeit innerhalb des Kollegiums, in dem dann aber auch die weniger Engagierten den besonders Engagierten ihr Engagement übel nehmen. Gerade dieser heikle Diskurs wird außer im informellen Bereich von Schulbehörde, Direktionen und LehrerInnenschaft ausgespart.
Partiell mangelt es an gegenseitiger Wahrnehmungsschärfe zum Abbau der vorhandenen Ängste. So entwickeln sich die Rollen der Bremser und Verhinderer innovativer Reformen gleichzeitig mit dem Gefühl, daß die eigene Arbeit als traditionell, veraltet und nicht mehr zeitgemäß abgewertet wird. Statt einer Annäherung entsteht, vereinfacht dargestellt, die Gefahr der Herausbildung zweier Pole, verschärft durch ideologische Differenzen und Erfahrungen gegenseitiger, persönlicher Verletzungen. Es scheint daher unumgänglich, verstärkte Bemühungen zu unternehmen und mehr Know-how in die Richtung zu entwickeln, daß möglichst viele verschiedene Ansätze und Kompetenzen im zu erstellenden Schulprofil und in der Schulentwicklung Platz finden. Notwendig ist eine Zunahme gegenseitiger Anerkennung von Stärken aber auch Akzeptanz von Schwächen und Defiziten anstelle von Geringschätzung, Modernisierungseuphorie und Abwertung als Immunisierungsstrategie gegen Neues. In einer pluralen, offenen Schule muß eine große Bandbreite an Persönlichkeiten, Unterrichtsstilen und Unterrichtsmethoden schon allein deshalb erwünscht sein, um den unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungshaltungen der Lernenden gerecht werden zu können und ihnen möglichst viele Bildungszugänge bereitzustellen. Voraussetzung dafür ist nicht, daß alle LehrerInnen Brüder und Schwestern im Geiste werden, sondern ein zunehmendes Maß des Miteinanders aber auch des positiven Nebeneinanders im Sinne einer friedlichen Koexistenz entwickeln, sodaß die Arbeitslasten, Zeitinvestitionen in Weiterbildung, Schulentwicklung etc. relativ gerecht und gleich auf den Schultern aller verteilt sind.
Auch wenn hier im Sinne der Sache v.a. Problemlagen aufgezeigt wurden, ist zu unterstreichen, daß im Bestreben des Innsbrucker Abendgymnasiums, sich gestalterisch und offensiv den neuen Herausforderungen zu stellen, deutliche Erfolge sichtbar sind, mit denen durchaus mit Stolz darauf verwiesen werden kann, daß die Schule den Vergleich mit anderen Institutionen nicht nur nicht scheuen muß, sondern auch durch Bestätigung „von oben“ zu den innovativsten Schulen Tirols sowie zur absoluten Spitze der österreichischen Abendschulen zählt.
Die Schule befindet sich auf bestem Wege von einer „segmentierten“ zu einer „lernenden Organisation“: bezüglich der Planung von Schulentwicklung und Unterrichtserteilung gibt es Erfahrungen mit entwickelten Teamstrukturen, die Teilbereiche erfassen (z.B. Fernstudium, Projekt „Schlüsselqualifikationen“) und schulentwicklungsbestimmend sind, in bezug auf eine generelle Erstellung und Umsetzung eines Schulprofils unter Beteiligung bzw. Zustimmung des Lehrkörpers werden die entsprechenden Strukturen erst noch gesucht. Diesbezüglicher Erfahrungsaustausch und das Formulieren von Zielen und Strategien wurden in Pädagogischen Konferenzen und zahlreichen Sondersitzungen aber bereits wiederholt durchdiskutiert, eines der Hauptprobleme stellt sich darin, einen Modus zu finden, der einen möglichst großen Teil des Lehrkörpers einbindet und alle LehrerInnengruppen an der Gestaltung der Schulentwicklung partizipieren läßt.
Auch auf der Verwaltungsebene gibt es bereits ein deutliches Vorwärtsschreiten zu einer „lernenden Organisation“, indem ein differenziertes System von Arbeitsgruppen für verschiedene schulische Aufgaben aufgebaut wurde (Werbung, Schulzeitung, Dokumentations- und Schriftenreihe, Verein für Kultur und Kommunikation, Arbeitsgemeinschaft der Abendschulen Österreichs usw.). Die Schwierigkeit besteht in dem bereits erwähnten Umstand, daß noch keine übergeordneten Koordinations- und Entscheidungsstrukturen samt einem Gesamtkonzept vorhanden sind, in das alle Einzelaktivitäten, Arbeitsgruppen, Modelle, Projekte, Schulversuche und individuellen Ansätze bzw. Überlegungen integriert werden können. Gerade im Bereich der Dezentralisierung realer Entscheidungsbefugnisse tut sich auch die sehr kooperative und eine Vielzahl von Aktivitäten zulassende und diese in höchstem Maß fördernde Schulleitung schwer, entweder „harte“ Entscheidungen selbst zu treffen oder diese im erwünschten Maß zu delegieren. So gibt es ein daraus resultierendes Potential an Unzufriedenheit, allerdings zeigen sich gerade auch die darunter Leidenden äußerst sensibel für das reale oder nur befürchtete Entstehen von „AssistenzdirektorInnen“, was wieder Eifersucht und Konkurrenz schüren würde und subjektive Empfindungen in der Art auslösen, daß das Eigene zu wenig gesehen wird oder zu kurz kommt. Dieses Problem der „Parität“ bei LehrerInnen in herausgehobenen Positionen wird am Abendgymnasium so wie in anderen Schulen unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer ideologischen Gruppe sowohl innerhalb als auch außerhalb von AktivistInnengruppen wirksam. Erschwerend kommt hinzu, daß sich gerade an der Innsbrucker Abendschule aufgrund des Vorhandenseins markanter Persönlichkeiten und des überaus hohen Qualifikationsniveaus des Kollegiums besonders viele „Chefs“ bzw. Führungspersönlichkeiten befinden, die über die momentan viel gepriesene „leadership“ verfügen.
Mitarbeit an Schulentwicklung braucht aber die Vermeidung der Tendenzen des zu frühen Ausschließens und ein Gefühl der Gleichheit, der gleichberechtigten Mitwirkung an Entscheidungen, der Miteigentümerschaft an Innvoationen, die nicht nur einer Gruppe bzw. bestimmten LehrerInnen mit allzu ausgeprägten Steuerungsansprüchen vorbehalten sein können. Allerdings wird Gleichheit wirklich zu einem Mythos bei denjenigen, die aus reinen Obstruktionsgründen und biedermeierlichem Rückzug ins Private keinen Beitrag beisteuern wollen. Ferner sollen aber Qualifikationen von Lehrkräften nicht unsichtbar gemacht werden, da jegliche Unterbindung vorübergehender Übernahme von Leitungsfunktionen für Schulentwicklung und kollegiale Fortbildung die Fruchtbarmachung der Kompetenzen des Kollegiums verhindern würde. Dazu Altrichter/Soukup-Altrichter die Selbstcharakterisierung eines australischen Geistes zusammenfassend: „Wenn immer eine Mohnblume über die anderen im Feld hinausragt, findet sich jemand, der ihr den Kopf abhackt. Wer sich weiterentwickelt, verletzt die Standards. Wer will schon wachsen, wenn einem das droht. Dann lieber im Geheimen (´Autonomie´) oder gleich groß bleiben wie alle anderen (´Parität´).“ Für die Lehrkräfte am Abendgymnasium stellen sich also hinsichtlich durchaus ambivalenter Wünsche die Fragen: Wollen wir eine kollektive Schulführung, ertragen wir KollegInnen in Leitungsfunktionen, wollen wir eine entscheidungsfreudigere, dann aber mitunter auch hierarchischere Schulleitung?
Desweiteren besteht die ungünstige Konstellation, daß wichtige Gremien und Bereiche Vielfachbesetzungen mit denselben Personen aufweisen. Dies ist zurückzuführen auf den damit verbundenen enormen, nicht abgegoltenen zusätzlichen Arbeitsaufwand, den viele KollegInnen verständlicherweise scheuen, aber auch auf das persönliche Überengagement von Lehrkräften auf der Suche nach Sinnstiftung und Wertschätzung in einem System, das materielle und ideelle Anerkennung in hohem Ausmaß verweigert. Dennoch ist ein Modus zu finden, der diese Problematik drastisch vermindert, da auf der einen Seite Burn-out-Syndrome gefördert werden und auf der anderen Seite das Übergewicht eines Personenkreises den Argwohn gegenüber einer befürchteten Strategie der Usurpation von Macht an der Schule erzeugt. Dies behindert die durchaus vorhandene Bereitschaft zur Mitarbeit von abseits stehenden LehrerInnen und beeinträchtigt die Identifikation im Lehrkörper mit der laufenden Schulentwicklung. Ohne die real vorhandenen Interessensgegensätze, die aber abgebaut werden können, zu verwischen, ist darauf zu achten, daß bei keiner Gruppierung das Gefühl entsteht, überfahren zu werden und mit zuwenig Mitbestimmungsmöglichkeiten ausgestattet zu sein.
Entsprechend bisheriger Erfahrungen mit Schulentwicklungsarbeit in Österreich tritt auch am Innsbrucker Abendgymnasium das Phänomen auf, daß sich viele Lehrkräfte lieber mit der Entwicklung des „Unterrichts“, einer neuen Lernkultur usw. beschäftigen als mit der Entwicklung der Gesamtorganisations- und Entscheidungsstruktur (Verwaltungsebene). Altrichter/Soukup-Altrichter sehen darin das Nachwirken unverändert gebliebener Strukturen des LehrerInnenjobs, indem sich ein Bild von einem durch Verwaltungstätigkeit unbefleckten Lehrberuf hält. Diese Interpretation wäre dahingehend zu ergänzen, daß eine plötzliche Umorientierung nach 200jähriger Obrigkeitsverwaltung, noch dazu angesichts eines immer noch mehr als berechtigten Mißtrauens an einem tatsächlichen Interesse in der Schulhierarchie an demokratiepolitischer Mitgestaltung, natürlich schwer fällt. Es fehlen die Erfahrungen und Kompetenzen, was ein optimales Management der aufzuwendenden Zeit betrifft. Dies erhöht zunächst wiederum die Reibereien auf der Beziehungsebene und wird als schwere Belastung empfunden. Viele Schulen sehen sich in dieser schwierigen Situation alleingelassen, Vertreter der Schulbehörde fallen als professionelle EntwicklungsberaterInnen vielfach aufgrund eigenen Zeit-, Erfahrungs- und Ausbildungsdefizits weitgehend aus. Dazu kommt, daß eine der großen GewinnerInnen der Schulautonomie gerade die Bildungsforschung ist, die von zusätzlicher Zuteilung an Karrieremöglichkeiten und materiellen Ressourcen profitiert, während in Zeiten rigider Sparkurse sogar die so genannten Modellschulen kostenneutral den Paradigmenwechsel schaffen müssen. Der Verweis auf das mit Schulentwicklung mittelfristige Ansteigen der Arbeitszufriedenheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schulentwicklung auf einem Übermaß an Selbstausbeutung aufbaut und es sehr schwierig ist, gleichzeitig den bisherigen Arbeitserfordernissen nachzukommen, Unterricht neu zu denken und durchzuführen, sich weiterzubilden und die Organisationsarbeit auf der Verwaltungsebene, die natürlich untrennbar verbunden ist mit der Etablierung innovativer Lernkultur, ebenfalls noch mitzugestalten. Hier zeigt sich ein Defizit der BildungsforscherInnen, die, immer stärker als think-tanks des Ministeriums eingebunden, zuwenig auf diese Problematik aufmerksam machen, die nicht auf eine „Faulheit“ der Lehrkräfte zurückzuführen ist oder auf ein standestypisches Denken in Kategorien der Besitzstandwahrung reduziert werden kann. So wie die BildungsforscherInnen ihre Forschungsaufträge bezahlt oder durch eine Verbesserung der beruflichen Position entlohnt sehen wollen, wollen auch die LehrerInnen mit hohem Qualifikationsniveau, zunehmender Professionalisierung und deutlich gestiegener Mehrarbeit ihre berechtigten Forderungen nach Anerkennung ihrer Leistung stellen dürfen.
Ein gewisses Desinteresse an Organisationsentwicklung hat allerdings auch mit bestimmten Erfahrungen zu tun. So kann z.B. die Lehrkraft nach anfänglicher Einengung durch Teamarbeit schlußendlich zwar durchaus mehr Autonomie und Kompetenzenzuwachs erfahren. Doch birgt genau diese Autonomievergrößerung durch den damit sich zwangsläufig ergebenden Einfluß auf Lehrfächerverteilung und Stundenplan einige Sprengkraft in sich, die erhebliche Konfliktlinien im Lehrkörper aufzubrechen droht. Dazu kommt noch, daß gerade der Versuch, tiefgreifendere Veränderungen an den Schulen herbeizuführen, auf erhebliche bürokratische Schwierigkeiten bei den oberen und mittleren Zentralstellen stoßen. In Tirol ist festzustellen, daß die Entwicklungsdynamik an den Schulen deutlich eingebremst wird, wenn die Organisationsstruktur in stärkerem Ausmaß berührt wird.
Echte Dezentralisierung und Deregulierung zur Stärkung der Autonomie der Einzelschule würden eigentlich Abnahme der Verantwortlichkeit gegenüber der hierarchischen Schulobrigkeit und Zunahme der Verantwortlichkeit gegenüber Studierenden, SchülerInnen und Eltern bedeuten. Doch genau hier läßt die medial viel beschworene „Verflachung der Hierarchien“ noch mehr als zu wünschen übrig. Die Angst vor Kontrollverlust ist im Ministerium und in der Landesschulbehörde immer noch allgegenwärtig, sodaß sich kühne Visionen in den Schulen weiterhin nur bei Vorhandensein äußerster Frustrationstoleranz in Ansätzen verwirklichen lassen.
5. Lebensbegleitende LehrerInnenfortbildung an der Innsbrucker Abendschule
Joachim Gruber stellt für den öffentlichen Dienst fest, daß unter Weiterbildung immer noch allzusehr ein sporadisches und unkoordiniertes Aufgreifen scheinbar passender und am Markt gerade leicht erhältlicher Bildungsangebote verstanden wird. Er unterstreicht,
„daß Personalentwicklung durch Weiterbildung […] aufgrund eines weitgehend fehlenden Bewußtseins für die Notwendigkeit, fehlender Einrichtungen und Mittel, starrer und undurchlässiger institutioneller Strukturen, Schemata und Hierarchien sowie institutioneller und individueller Ängste, […] nach wie vor ein sehr untergeordnetes Thema darstellt. Es fehlt dafür an mittel- und längerfristigen Konzepten, an ausformulierten Strategien und festgelegten Zielen. Nur sehr vereinzelt wird man erwähnenswerte Aufbau- und Ablaufpläne zur institutionellen Verankerung und Durchführung von Weiterbildung in den Dienststellen entdecken. Kaum existieren seriöse und aussagekräftige Bedarfserhebungen, Anforderungs- und Zielkataloge […].“
Am Beispiel des Innsbrucker Abendgymnasiums läßt sich zeigen, daß Grubers Analyse zwar tendenziell auch im Schulbereich aussagekräftig ist, daß aber im Bereich der Schule bereits viele Ansätze und Fortschritte sichtbar werden. Nicht zuletzt soll auch der hier vorliegende Band einen gewissen Aufbruch in der LehrerInnenfortbildung in den letzten Jahren dokumentieren und eine dementsprechende Diskussion stärken sowie das Bewußtsein für die Wichtigkeit von Weiterbildung für die Lehrenden noch weiter schärfen.
Als Musterbeispiel für eine „bildungspolitisch aktive Schule“ versteht sich die Innsbrucker Abendschule als lernende Organisation, d.h. vor Ort wird zunehmend der Versuch der Analyse gemacht, welche Bedingungen von Lern- und Entwicklungsprozessen zur Förderung der Schulqualität notwendig sind. Schule macht sich also selbst zum Lerngegenstand und setzt Anstrengungen, den dornigen Weg selbstorganisierter Weiterentwicklung zu beschreiten, der nicht mehr nur fachorientierte, außerschulische, individuell genützte Fortbildung, sondern schulinterne bzw. arbeitsplatzbezogene LehrerInnenfortbildung meint und ein eigenes Schulentwicklungsprogramm anvisiert.
Charakteristika erfolgreicher schulzentrierter und schulinterner LehrerInnenfortbildung
Die Beweggründe der quantitativ und qualitativ hohen und breit gestreuten Fortbildungsaktivitäten am Innsbrucker Abendgymnasium sind darin zu erblicken, daß die Schule und die Schulleitung der Weiterbildung hohe Priorität einräumen und die Lehrenden für sich selbst die Notwendigkeit sehen, im Sinne des permanenten „lebensbegleitenden Lernens“ selbstaktiv für die entsprechenden Zusatzqualifikationen in einer sich immer schneller verändernden Arbeitswelt Sorge zu tragen, um die Ausbildungsstandards ständig zu verbessern und in der Lage zu sein, Innovationen zu setzen. Dabei spielt die persönlichkeitsbezogene Fortbildung eine große Rolle, bei der gerade angesichts des auf die ganze Person abzielenden Anforderungsprofils des Lehrberufes kaum unterschieden werden kann zwischen Kursen, die sozusagen ausschließlich der Selbstverwirklichung dienen und jenen, bei denen ausschließlich die Schule profitiert.
Die LehrerInnenfortbildung kann als einer der weitestfortgeschrittenen Bereiche im Zuge des Schulentwicklungsprozesses des Innsbrucker Abendgymnasiums angesehen werden. Alle individuellen Bemühungen eines sich zunehmend professionalisierenden Lehrkörpers erfahren seitens der sich selbst von der Fortbildungsnotwendigkeit nicht ausnehmenden Schulleitung eine höchst unbürokratische Förderung, die explizit die Erwünschtheit dieser Anstrengungen nahelegt und die Weiterbildungsmotivation hebt. Dabei ist ein Großteil der Lehrkräfte aber nicht nur individualistisch unterwegs, es gibt seit dem Fortbildungsseminar „Kommunikationstraining“ 1985 eine ungebrochene Kontinuität schulinterner Fortbildung. Dabei wurde von Anfang an neben Fachwissen, Methodik und Didaktik gerade auch auf persönlichkeitsbezogene Veranstaltungen Wert gelegt. So wurde etwa 1994 eine schulinterne Supervisionsgruppe ins Leben gerufen, die nun eine ständige Einrichtung ist. Entsprechend den spezifischen Bedürfnissen und Erfordernissen des schulischen Sondertyps „Abendgymnasium“ ging das Bemühen in die Richtung, die Weiterbildung zu bündeln und sozusagen eine auf die Schule zugeschnittene Fortbildungsreihe zu konzipieren.
Diese schulzentrierte Weiterbildung förderte Erfahrungen mit der Durchführung projektbezogener, fächerübergreifender Zusammenarbeit. Eine derartige Qualifizierungsoffensive schaffte die Basis für Innovationen wie etwa die Einführung inhaltlich wohlüberlegter Eröffnungsabende, die Errichtung des Fernstudiums oder etwa den beantragten Schulversuchs „Matura mit Schlüsselqualifikationen“, die ihrerseits wieder aufgrund der Einbindung eines wachsenden Kreises von Lehrpersonen und der benötigten speziellen Kompetenzen eine erhöhte Nachfrage nach Fortbildung auslösen.
Im Fortbildungsensemble der Schule ist auch die kollegiale LehrerInnenweiterbildung fest verankert, womit die Vermittlung von Kompetenzen, Einsichten und Erfahrungen von LehrerInnen an KollegInnen gemeint ist. Somit werden nicht nur externe ExpertInnen und Organisationen, sondern auch die eigenen KollegInnen als wichtige Ressourcen der Weiterbildung genutzt, die sich in Form gegenseitiger Unterrichtsbesuche und im Rahmen selbstorganisierter Tagungen, Seminare, Pädagogischer Konferenzen und Workshops manifestiert. Die Palette reicht von Textverarbeitung, Interneteinschulung, Rhetorik, Massage und Energiemeditation bis hin zu Forumtheater, Video und Zeitmanagement. Diese gemeinsamen Fortbildungserfahrungen sind schon allein deshalb von Bedeutung, weil sie verschiedenen LehrerInnen vergleichbare Qualifikationen vermitteln, wichtig für das Selbstbewußtsein der Lehrenden sind und die Qualität des Unterrichts ebenso erhöhen wie die Identifikation mit der Schule.
Der Austausch von Wissen bzw. Kompetenzen und deren Umsetzung an der Schule erfordert ein Mindestmaß an Interesse für schulinterne Kooperation sowie Veränderungen in methodisch-didaktischer und schulorganisatorischer Hinsicht. Eine diesbezügliche Förderung scheint umso dringlicher, als es prekärerweise in den Schulen unter den LehrerInnen keine Kultur des Voneinander-Lernens gibt, obwohl dies ein zentraler Bildungsauftrag gegenüber den SchülerInnen und Studierenden ist. Von da her gesehen ist es nicht verwunderlich, daß die Weitergabe von Wissen und Kompetenzen im Kollegium leicht als Grenzverletzung in Richtung Schulmeisterei, Wichtigtuerei und Profilierungssucht ausgelegt werden kann. Um unbeabsichtigte Fehler zu vermeiden, ist es deshalb auch für das Abendgymnasium wichtig, beim Austausch bestimmte Regeln bewußter wahrzunehmen und zu beachten. Messner/Krall erwähnen u.a. folgende Gesichtspunkte:
* Vermeidung von Selbstdarstellung und Degradierung der KollegInnen zu einem Publikum, das der eigenen Leistungsschau beiwohnt
* Konstruktiver Umgang mit eventuellen Konkurrenzsituationen durch Gegensteuerungsstrategien, die sich etwa an der Stärke beider PartnerInnengruppen orientieren
* Betonung auf einer problematisierenden Darstellung der eigenen Arbeit: perfekte Präsentationen motivieren weniger zur Mitteilung eigener Ideen und Anregungen und fördern das Entstehen eines Hierarchiegefälles zu den zuhörenden KollegInnen
* Berücksichtigung des Erfahrungsbereiches des Gegenübers unter Vermeidung eines allzu großen Abstraktionsgrades, um Kommunikation herzustellen. Nötig sind also Detaillierung, Beispiele, „stories“
* Einplanung von Zeit für Einzelgespräche und informellen Austausch, um gezielt auf spezielle Interessen eingehen zu können.
Erschwernisse und Hindernisse in der LehrerInnenfortbildung
Auch im öffentlichen Dienst nehmen sichere Beschäftigungsverhältnisse rapide ab, was als Modernisierung und Marktorientierung gepriesen wird. Schulentwicklung und die Erstellung von Leitbildern für die Einzelinstitutionen läuten die dritte Phase der Dezentralisierung ein. Nach der finanziellen und pädagogischen Autonomie soll nun die personelle Autonomie in die Wege geleitet werden. Mit der Ausrichtung von Schulprogrammen wird ein deutliches Anforderungsprofil an die LehrerInnenschaft gestellt, sodaß die Schule Lehrkräfte mit ganz bestimmten Kompetenzen benötigt, also auch bestrebt sein wird, ihren Einfluß auf Anstellung und Weiterbeschäftigung geltend zu machen. Personalentwicklung ist das neue Schlagwort, welches das Senioritätsprinzip durch ein nicht genau definiertes Leistungsprinzip ersetzen soll, ohne daß auf den parteipolitischen Zugriff bei der Besetzung der Führungspositionen tatsächlich verzichtet wird. Damit einhergehend wird in Zukunft die Bedeutung der LehrerInnenfortbildung stark zunehmen, allerdings erscheint es mehr als fraglich, ob deshalb angesichts des eingeschlagenen Sparkurses die Chancen der JunglehrerInnen und arbeitslosen KollegInnen am „Lehrermarkt“ wirklich steigen werden. Gerade die Arbeitslosen werden gezwungen sein, sich die nötigen Zusatzqualifikationen auf eigene Kosten zu erwerben. Gerade für diese Gruppe ist deshalb der Abbau von Zugangsbarrieren, demzufolge eine gezielte Öffnung der Pädagogischen Institute (PI) und die Einrichtung kostenloser Weiterbildungsangebote besonders dringlich. Um neue Wege zu beschreiten, würden sich Kooperationen zwischen Arbeitsmarktservice und Schulen wie etwa dem Abendgymnasium sowie dem PI anbieten. In dieser Hinsicht beispielgebend könnte die praxisorientierte Forbildung des Zentrums für innovative Pädagogik sein, das sich als Einrichtung im Rahmen der Pädagogischen Akademie der Diözese Linz als Servicestelle für arbeitsuchende Lehrkräfte versteht, die Kontakte zu potentiellen Arbeitgebern knüpfen wollen und dort die Möglichkeit haben, ihr Wissen auf den neuesten Stand zu bringen, aber auch in einer Schulpraxiswerkstätte weitere berufliche Erfahrungen zu sammeln.
Jedenfalls ist offenkundig, daß in den Schulen künftig noch mehr als bisher ständige Weiterbildung unabdingbare Ergänzung und Begleitung sein wird und zunehmend auch für Einstieg, Erhalt und Absicherung der beruflichen Stellung ausschlaggebend ist. Die Erstellung eines Schulprofils bzw. eines Schulprogramms im Verlauf des Schulentwicklungsprozesses des Abendgymnasiums wird zwangsläufig eine noch stärkere Fokussierung der LehrerInnenfortbildung nach sich ziehen. Gefordert ist infolgedessen ein am Leitbild orientierter mittelfristiger Fortbildungsplan für Schule und Lehrkräfte. So sinnvoll die Zunahme von Weiterbildung in den Schulen ist, muß andererseits auch festgehalten werden, daß zwar Leistungsdruck und die Leistungserwartungen gegenüber Lehrkräften, v.a. den jüngeren, steigen, als Entgelt dafür winken derzeit aber nur Einkommensverluste und unsichere Arbeitsplätze. Das Fehlen eines positiven Anreizmodells zeigt sich auch in der völligen Absenz einer schulischen Laufbahnplanung. Undurchlässige und fehlende Karrierewege machen individuelle Bemühungen zur Weiterbildung für Beschäftigte unattraktiv. Der Grund für den Rückzug ins Private ist dann vielfach Resultat einer nicht vermittelten oder erlebten Sinnhaftigkeit der beruflichen Tätigkeit am Arbeitsplatz Schule, wo es allzuoft erfolgreich gelingt, Engagement und Idealismus von Lehrenden zu bestrafen und zu zerstören. In Anbetracht der Tatsache, daß im Schulsystem Weiterbildung keine konkreten Perspektiven für eine selbstgesteuerte berufliche Karriereplanung öffnet, ist das Auftreten von Bildungsunwilligkeit in Teilen der Kollegien nicht verwunderlich. Hinter bestimmten Verhaltensweisen der Verweigerung verbergen sich also ganz konkrete institutionelle Erfahrungen.
Die notwendige Professionalisierung der LehrerInnenfortbildung zeigt sich in Tirol sehr deutlich an der quantitativen und qualitativen Ausweitung des Angebots des für die AHS zuständigen Pädagogischen Instituts, von dem das Innsbrucker Abendgymnasium profitiert. Dies läßt sich z.B. ablesen am Zurückdrängen der bis vor nicht allzulanger Zeit gewichtigen Einbindung von Vertretern der Schulaufsichtsbehörde als Lehrende, an der Heranziehung anerkannter Fachleute, der Bereitstellung von am freien Markt überaus teuren, für die Etablierung einer neuen Lernkultur aber wichtigen Ausbildungslehrgänge (TZI, NLP, Gestaltpädagogik usw.), an der Förderung der Einrichtung von Supervisionsgruppen sowie generell an einer unbürokratischen Vorgangsweise des PI und an der Aufgeschlossenheit gegenüber Wünschen und Vorschlägen, die aus den Tiroler Schulen an das Fortbildungsinstitut herangetragen werden. Umso nachdenklicher machen die zunehmenden finanziellen Engpässe, die es dem PI erschweren, den erreichten Qualitätsstandard zu halten bzw. zu steigern.
Es ist geradezu absurd, aber mit Blick auf den Sparkurs der Regierung und die Diskussion der Kostenabwälzung auf die Fortbildungswilligen typisch, daß genau zu dem Zeitpunkt, da die anvisierten Reformen in den Schulen eine rasche Qualifizierungsoffensive der ArbeitnehmerInnen verlangen und seitens des Ministeriums und des Tiroler Landesschulrates eine dringliche Empfehlung zur rechtzeitigen Entwicklung eines Schulprogrammes noch vor der obligatorischen Einführung abgegeben wird, die Zugänge zur LehrerInnenweiterbildung erschwert werden. Hier sei weiters nur auf die Bestimmungen des letzten „Lehrerpaketes“ der Bundesregierung hingewiesen. Immerhin ist positiv zu vermerken ist, daß nach jahrelanger Diskussion die Möglichkeit zur Inanspruchnahme von „sabbaticals“ und Bildungskarenz geschaffen wurde, auch wenn der Zugang realistischerweise überwiegend nur den Besserverdienenden offensteht. Vor allem existiert die Gefahr, daß die Ausgaben für Weiterbildung entsprechend dem bisherigen Vorgehen bei der Budgetkonsolidierung spürbar zurückgehen, obwohl derzeit die größte Fortbildungsnotwendigkeit für eine gezielte Personalentwicklung in einem sich im Umbruch befindlichen Schulsystem besteht. Nicht zufällig befürchtete der Tiroler Landesschulrat in seinem ersten Antwortschreiben auf einen Schulversuchsantrag des Innsbrucker Abendgymnasiums unter dezidierter Nennung der Fortbildung „hohe Kosten“, die nicht leistbar sind. Wenn Schulautonomie zu einer eleganten, mitteleinsparenden Rotstiftpolitik unter Dezentralisierung der daraus entstehenden Konflikte verkümmert, können Landesschulbehörde und die Schulen selbst schauen, wie sie den Mangel erfolgreich bewirtschaften. Fortbildung? Ein Muß, aber bitte immer öfter möglichst selbst organisieren, selbst bezahlen, betriebswirtschaftlich handeln und einen Sponsor auftreiben!
Abschließend läßt sich noch einmal lapidar feststellen, daß die Anforderungen an schulische Ausbildungsstandards beträchtlich zugenommen haben und weiterhin zunehmen werden. Ohne kontinuierliche Weiterbildung, Bereitschaft zu selbstentwickelter und selbstorganisierter Evaluation sowie einem hohen Grad an Engagement wird es nicht zu schaffen sein, die neuen Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Den zu erwartenden Rationalisierungen im personellen Bereich muß aber mit Entschiedenheit entgegengewirkt werden, während gleichzeitig ein energischer Anspruch für die erbrachten Leistungen und Qualitätsverbesserungen auch in Form einer adäquaten Bezahlung und gesicherter, menschenwürdiger Arbeitsverhältnisse zu stellen ist.
Eine lernende Gesellschaft zu sein heißt, daß sich auch die Schule zu einer lernenden und sich selbstbewußt ständig verändernden Institution entwickelt, in der die Lernenden und ArbeitnehmerInnen Rahmenbedingungen materieller und immaterieller Art vorfinden, in denen sich ihr Potential auch tatsächlich optimal enfalten kann.